Der Stecklikrieg
Ein großer Teil der Schweizer verabscheute die helvetische Verfassung. Sie warteten auf eine günstige Gelegenheit, um sie zu beseitigen. Diese Gelegenheit schien im Herbst 1802 gekommen zu sein. Im Sommer dieses Jahres hatte Napoleon nämlich die französischen Truppen aus der Schweiz zurückgezogen. Er hegte seine Hintergedanken. Die Schweizer ahnten nichts und freuten sich. Der Berner Pfarrer und Dichter Gottlieb Jakob Kuhn jubelte:
«Jetz, Buebe, freuet ech, juhe!
Bald hei mer keini Franze meh
U sy alleini Meister.
Wie ds Hagelwätter sy si cho;
Doch redet no nit zlut dervo!
Die böse Unglücksgeister,
Si lose no am Pfäister.
Marsch! Marsch! Franzos, gang hey!
Mir thüe der alli Thüren uuf. . .
Hest ds Alte zungerobsig gmacht.
Un üs nüt bessers derfür bracht. . .
Versteisch, Mussieh Frangseh?
So gang u chumm nit meh !. . .»
Sobald die fremden Soldaten abgezogen waren, traten in Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus und Appenzell die Landsgemeinden zusammen wie vor 1798. Auch machten sich die Gegner der helvetischen Verfassung in diesen und in andern Kantonen bereit, mit den Waffen in der Hand auszuziehen.
Berner Patrizier aber reisten ins Oberland und in den Aargau, luden hier ihre alten Waffengefährten zu sich in die Wirtshäuser oder schrieben ihnen Briefe. - So erzählt Peter Wyß von Isenluh:
«Im Herbstmonat 1802 schrieb mir jener Oberst Gatschet, der uns bei Neuenegg kommandiert und nach dem vergeblichen Sieg abgedankt hatte einen Brief, ich solle mich als Scharfschütze mit dem Stutzer und in der Montur beim Gasthaus in Interlaken einfinden. Wozu, war im Briefe nicht angegeben. Trotzdem fand ich mich, Herrn Gatschet zulieb, ein. Ich dachte, es werde wohl eine rechte Sache sein, für die er mich auf bot. Beim Gasthause fanden wir eine große Volksmenge beisammen, besonders viele aus dem Oberhasli, fast alles Freiwillige, nur wenig eigentliche Militärs.»
Warum boten die Patrizier Soldaten auf? Um die helvetische Regierung, die ihren Sitz damals in Bern hatte und die auch Truppen sammelte, zu vertreiben. Eines Tages - es war Mitte September - näherten sich die Harste der Patrizier der Stadt Bern. Sie waren nicht alle gefährlich, diese Krieger;
denn manche besaßen statt Waffen nur Stöcke. Deshalb nennt man diesen zeitweise gemütlichen Bürgerkrieg «Stecklikrieg».
Die Angreifer eröffneten vom Aargauerstalden aus mit zwei Kanonen ein lebhaftes Feuer gegen das Gebäude, in dem die helvetische Regierung tagte. In dem Augenblick, in dem den Angreifern die Munition ausging, hißte die Regierung die weiße Fahne. Das war das Zeichen dafür, daß sie verhandeln wolle. Die Parteien einigten sich rasch: Die Regierung übergab die Stadt, aber behielt für sich und ihre Truppen freien Abzug in die Kantone Freiburg und Waadt vor. Alsbald rückten die Sieger, zum Teil mit Tannreis, zum Teil mit Eichenlaub bekränzt, in die Stadt ein. Dem Zuge voran wehte eine alte Berner Fahne, und laut erschollen die Klänge des Berner Marsches: «;Träm, träm, träderidi. . .»
Alle anwesenden Mitglieder des Großen Rates, der im März 1798 aufgelöst worden war, begaben sich ins Rathaus. Ein greiser Schultheiß setzte sich, das Zepter in der Hand, auf den Thron. Bald danach flogen Reiter mit Proklamationen ins Land hinaus und Verkündeten: Die rechtmäßige Gewalt ist wieder hergestellt.
Inzwischen marschierten die aufständischen Berner, Solothurner, Zürcher, Urschweizer, Glarner und Appenzeller, im ganzen 8000 Mann stark, gegen Westen zu, um die «Helvekler» zu verfolgen. So nannte man die Anhänger der helvetischen Regierung. Sie zählten nur 2500 Mann und wurden in der Nähe von Murten geschlagen.
Nach dieser Niederlage flohen sie Hals über Kopf und trafen am folgenden Morgen in Lausanne ein, Soldaten und Offiziere, Reiter und Fußvolk, Gepäck- und Munitionswagen, alles wirr durcheinander. Die Regierung machte sich bereit, auf einem Schiff über den See nach Savoyen zu fliehen. In diesem Augenblicke langt von Genf her eine sechsspännige Kutsche in Lausanne an. Ein Bote Napoleons steigt aus mit einer Proklamation in der Hand. General Rapp, so heißt der Gesandte, eilt aufs Rathaus und verliest dem helvetischen Senat den Befehl des mächtigen Mannes in Paris: «Ihr habt euch drei Jahre gezankt; wenn man euch länger gewähren läßt, werdet ihr euch drei weitere Jahre morden. Ich will der Vermittler – der Mediator - eurer Streitigkeiten sein. Die Statthalter sollen sich auf ihre Posten begeben und die bewaffneten Scharen auseinander gehen !»
Nun wußten die Schweizer, was sie zu tun hatten. Sie gehorchten und traten also den Heimweg an. Die aufgebotenen Bauern mögen zumeist so gedacht haben wie unser Peter Wyß von Isenluh. Er erzählt:
«Der Befehl Napoleons war gut und uns ganz recht. Wir hatten zu Hause noch manches zu tun, das nötiger war: Herbstarbeit aller Art, Obst und Feldfrüchte einzuräumen, und warum sollten wir uns im Vaterland verfolgen und herumschlagen? Ich muß es sagen, ich war recht froh, als es hieß: wieder heim nach Hause !»
Hätten die Schweizer aber nicht gehorchen wollen, so wären sie bald dazu gezwungen worden; denn ein französischer General marschierte mit 12‘000 Mann in unser Land ein.
Der Stecklikrieg war beendigt, und die französische Militärherrschaft begann von neuem.
Ihre Entstehung
Napoleon war zur Überzeugung gekommen, unser Land müsse eine ganz neue Staatsordnung erhalten. Wenn die Schweiz sich heute eine neue Verfassung geben wollte, so würde diese in Bern beraten. Damals war es anders. Napoleon befahl, daß die Schweiz einige Männer nach Paris senden solle; denn Paris war nicht nur die Hauptstadt Frankreichs, sondern auch die unseres Landes. - Von hier kamen die obersten Befehle. - Die Kantone ernannten 65 Abgeordnete, unter ihnen Peter Ochs und Heinrich Pestalozzi. Im Dezember 1802 trafen sie in Paris ein.
An einem Sonntag empfing Napoleon, umgeben von seinen Mitkonsuln, seinen Ministern und zahlreichen Generälen, fünf dieser schweizerischen Abgesandten. Er erklärte ihnen in einer Rede, was er mit der Schweiz vorhabe. Er sagte: Im Innern wird sie unabhängig bleiben. «In allem aber, was Frankreich angeht, muß sie französisch sein wie alle an Frankreich angrenzenden Länder»
Er sprach auch über die Kantonsverfassungen, erlaubte jedoch den Schweizern, diese zur Hauptsache selbst zu entwerfen. Die Ordnung für das gesamte Land aber arbeitete Napoleon aus. Die Schweizer vernahmen lange nichts von ihr; der Erste Konsul und seine Minister hielten sie geheim. Endlich wurden zehn Schweizer zu einer Sitzung eingeladen. Oben am Tische nahm Napoleon Platz. Zu seiner Rechten setzten sich fünf Schweizer, die am liebsten zu der Ordnung vor 1798 zurückgekehrt wären. An seine Linke schlossen sich die Anhänger einer stärkeren Einigung, die sogenannten Unitarier, an. Ein Minister las die ganze Verfassung vor. Die Schweizer durften Einwände machen; allein Napoleon blieb fast immer bei seiner Meinung. Beide Parteien verwunderten sich aufs höchste, wie gut er die Geschichte der Schweiz und die Verhältnisse in ihr kannte.
Nach drei Wochen ließ Napoleon an einer neuen Sitzung einem jener zehn Schweizer die reich verzierte Urkunde feierlich überreichen. Dann empfing er sämtliche Abgeordnete zu einer Abschiedsaudienz. Er ging der Reihe nach von einem zum andern und richtete ein paar freundliche Worte an ihn. Zu Peter Ochs aber bemerkte er kurz und schneidend: «Die Revolution ist zu Ende, Herr Ochs.»Die 63 Schweizer kehrten heim. Es hätte eigentlich genügt, daß nur einer von ihnen nach Paris gereist wäre, um das Werk Napoleons abzuholen.
Die Bestimmungen der Verfassung
Die Verfassung, die der Vermittler - der Mediator - der Schweiz gab, nennt man Mediationsverfassung. Sie bestimmte: Es gibt keine zugewandten Orte, keine Untertanenlande und keine gemeinen Herrschaften, sondern 19 gleichberechtigte Kantone. Zu den 15 alten Orten kamen sechs neue, nämlich Waadt, Aargau, Thurgau, St.Gallen, Graubünden und Tessin. Jeder Ort durfte, wie vor 1798, zwei Vertreter an die Tagsatzung senden. Auch erhielt ein jeder Kanton wieder eine eigene Regierung. In den Länderorten kamen die Männer wie einst zu Landsgemeinden zusammen. In den Städteorten genossen die vornehmen Bewohner der Stadt, die Patrizier und die alten Zunftherren, größere politische Rechte als die Landleute. Aber sie regierten doch nicht mehr, wie früher, ganz allein.
In Bern zum Beispiel zählte der Große Rat 195 Mitglieder; 74 von ihnen entstammten dem Lande. Im Kleinen Rate saßen wiederum 27 Männer, 21 waren Patrizier.
Die Mediationsverfassung paßte für die Schweiz weit besser als die helvetische. Napoleon konnte es darum wagen, seine Truppen aus unserem Gebiete abzuberufen. Im Februar 1804 verließen die letzten französischen Soldaten das Land. Das Volk blieb ruhig.
Weil die Parteikämpfe erloschen und die Schweiz nicht wieder zum Kriegsschauplatz wurde, konnte sie ein wichtiges Friedenswerk in Angriff nehmen, die Entsumpfung der Ebene zwischen Walen- und Zürichsee.