Die Schweiz und die französischen Wirtschaftssperren

Daß Napoleon den Kontinent gegen England absperrte, wissen wir. Allein er begnügte sich damit noch nicht, sondern erhob ungeheuer hohe Durchgangszölle auf Rohstoffen, welche die Schweiz brauchte, so auf Baumwolle und Rohseide, oder er verhinderte deren Einfuhr. Aber noch mehr. Er wollte es nicht dulden, daß die schweizerischen Baumwoll- und Seidentücher den französischen Konkurrenz machten. Deshalb verbot er, daß die Schweiz diese Artikel nach Frankreich, Italien, Holland und anderen Staaten ausführe.

Welches waren die Folgen? Tausende von Spinner- und Weberfamilien in Appenzell, im St. Gallischen und im Zürcherlande verloren Arbeit und Brot. Im Sommer 1812 bat die Tagsatzung Napoleon in einem Schreiben, er möchte erlauben, daß die Schweiz wenigstens in einige seiner Länder Waren einführen dürfe, zum Beispiel nach Italien und Holland. Sie legte dar:

«Ein großer Teil unserer Bevölkerung hat bis auf diesen Tag von der Arbeit des Spinnens und Webens gelebt. Allein dieses Gewerbe gerät jetzt in Zerfall. Wir wagen es nicht, unsern Blick auf den nächsten Winter zu richten, auf das Elend, das verschiedene Kantone heimsuchen wird. Wir zittern vor den unberechenbaren Folgen dieses traurigen Standes der Dinge. Erschüttert von der Verzweiflung so vieler Tausende unserer Mitbürger, nehmen wir Zuflucht zu der Güte eurer Majestät»

Napoleon antwortete nicht. Es war nicht das erste Mal, daß er schwieg. Einmal aber hatte er barsch erklärt: «Ich schließe meine Barrieren, bin Herr in meinem Lande, und da ist nichts zu klagen und vorzuschreiben.»

Im Jahre 1813 veröffentlichte ein zuverlässiger Augenzeuge eine Schrift unter dem Titel: «Die unglaubliche Größe des Elends im Schoße unseres Vaterlandes» Sie berichtet:

«im Kanton Glarus wurden die Lebensmittel schon im Jahre 1800 so teuer und die Verdienstlosigkeit und der Hunger so groß, daß bei 1200 Menschen, meistens Kinder, auswanderten, um ihr Leben bei ihren eidgenössischen Brüdern zu fristen. Seither machte das Elend nur kurze Pausen - und wurde immer größer und rettungsloser. Im Anfang der Not konnte man noch manches Hausgerät hingeben; man hatte noch Betten, Kleider, Sparpfennige. Viele, die der Strom des Unglücks seither auch ins Elend gerissen, konnten helfen. Aber jetzt ist alles dahin. Die Not ist auch in früheren Zeiten oft groß gewesen; aber so anhaltend, so allgemein, ja so fürchterlich war sie noch nie.

In mehreren Dörfern hat ein beträchtlicher Teil der Einwohner nicht so viel Kleidung, daß sie zur Kirche und die Kinder zur Schule gehen dürften; auch besitzen sie durchaus kein Bett mehr. Die Kindbetterin, der Kranke muß auf Holz liegen, und elende Lumpen hüllen den neugeborenen Säugling ein. In Menge trifft man halbnackte Leute, mit Fetzen behängt, an. In abscheulichen Wohnungen, die zusammenfaulen, sind Menschen auf Menschen gepfropft, die Fenster durchlöchert und mit Lumpen verstopft. Mehrere arme Haushaltungen wohnen in Haufen zusammen in gemeinschaftlichen Stuben. Ofen und Bank sind die Schlafstellen.

Der Hunger wütet unter diesen Elenden mit all seinen Schrecknissen. Wochenlang sehen sie kein Brot, und von Fleisch ist nie die Rede, es sei denn von abgetanem krankem Vieh. Ihre Nahrung besteht wocheaus und wocheein aus Erdäpfeln und schwarzem Kaffee ; denn die Milch ist zu teuer.

Solche Haushaltungen gibt es im Lande mehr als die Hälfte. jetzt schon, Ende Hornung, hat eine große Zahl von Haushaltungen keine Erdäpfel mehr, nicht einmal Samen. Schon letztes Frühjahr gingen Leute, vom rasenden Hunger getrieben, sobald das Gras keimte, aufs Feld, um wilde Kräuter zu verzehren. Dieses Jahr wird das noch häufiger geschehen, da es weniger Lebensmittel und auch weniger Verdienst gibt.

Manche nehmen Zuflucht zum Betteln. Da wo die Landjäger sie nicht zurückweisen, regen sich die Bettler bei den menschlich Gesinnten unter den Vermöglichen besonders um die Zeit des Nachtessens, um die Leute beim Tische anzutreffen. Selbst Arme, die schmerzlich entbehren, teilen oft ihre gesottenen Erdäpfel mit ihnen. Oh ! es gibt unbekannte Züge von Menschlichkeit, die zu Tränen rühren würden, und zwar meistens bei solchen, die einen Teil der Not selbst fühlen; weit seltener bei denen, welchen es Wohl ergeht.»