Die Leute von Stäfa werden scharf bestraft, weil sie Wünsche eingereicht und nach alten Freiheitsbriefen gefragt haben
Sobald die Regierung von der Denkschrift der Stäfener vernahm, empörte sie sich über den <<neuerungssüchtigen, unseligen Schwindelgeist››. Sie lud einige Mitglieder ihrer Lesegesellschaft nach Zürich und verhörte und verhaftete sie. Dann - es war im Januar 1795 - sprach der Rat schwere Strafen aus, obwohl kein Mensch an Aufruhr gedacht hatte. Er verurteilte etwa siebzig Personen zu Geld- und anderen Strafen, und den Verfasser der Denkschrift verbannte er für sechs Jahre aus dem Gebiete der Schweiz und zwei andere ehrbare Männer für vier Jahre.
Die Strafen schienen den Leuten am See hart; aber sie dachten auch jetzt nicht an Empörung. Hingegen erinnerten sich mehrere Gemeinden daran, daß sie alte Freiheitsbriefe besaßen, so auch die Bewohner von Stäfa. Mitte Mai 1795 setzten sie eine Kommission ein. Diese sollte versuchen, dafür zu sorgen, daß die Regierung die Freiheiten wieder beachte. Oder dann wünschte man wenigstens Auskunft darüber zu erhalten, seit wann sie ungültig geworden seien. Zum Präsidenten dieser Kommission wurde ein 58 jähriger angesehener Mann gewählt, Johann Jakob Bodmer, Vater von elf Kindern.
Nun lud der Rat wieder Leute nach Zürich. Sie folgten dem Rufe jedoch nicht, weil sie an die früheren plötzlichen Verhaftungen dachten. Hingegen ließen sie der Regierung mitteilen, sie wollten sonst gehorsam sein. An Aufruhr dachte niemand. Trotzdem mahnte Zürich die bernische Obrigkeit, sie möge sich bereitmachen, um, wenn nötig, Hilfe zu senden. Der Berner Rat war sofort einverstanden und bot im Aargau Truppen auf.
Jetzt entschließt sich der Rat von Zürich, Gewalt anzuwenden. An einem nebligen und regnerischen Sonntagvormittag erscheint ein General mit 2000 Mann in Stäfa und befiehlt den Bewohnern, alle Gewehre abzugeben. Die Gemeinde, aufs höchste überrascht, gehorcht. Dann nimmt der General einige Führer gefangen, unter ihnen Bodmer, und schleppt sie nach Zürich.
Nun beginnen neue Verhöre. Bald machen Geistliche in den Kerkern Besuche und bereiten die sechs «Fehlbarsten» zum Sterben vor für den Fall, daß das Urteil auf Tod lauten sollte. Frauen und Kinder der Verhafteten wandern in saubern, aber einfachen Kleidern mit verweinten Gesichtern von einer Ratsherrentüre zur andern und flehen demütig um das Leben ihrer Angehörigen.
Außer den betroffenen Frauen und Kindern bittet und beschwört noch jemand anderes die Ratsherren, daß sie keinen «Tropfen Menschenblutes» vergießen möchten: Pfarrer Lavater. Er predigt, verfaßt Bittschriften, schreibt Gedichte, sucht Mitglieder des Rates auf und bleibt auch dann
furchtlos und unerschüttert, wenn leidenschaftliche Predigtbesucher ihm gleich nach dem Gottesdienste heftige Vorwürfe machen.
Eines Tages begibt er sich zum Bürgermeister. Dieser ist zuerst unwillig, beginnt dann aber zuzuhören; zuletzt wird er «aufmerksam und nachgebend».
Im Rate kommt es zu erregten Diskussionen. Die einen meinen: Da wir kein Sibirien als Verbannungsort haben, ist es am sichersten, den Schuldigen das Leben zu nehmen. Andere warnen: «Bürgerblut raucht lange !» Die Spannung in der Stadt ist groß.
Am Tage, an dem die Urteilsfällung durch den Großen Rat zu erwarten ist, eilt ein 28 jähriger Mann «in der Beklemmung seines Herzens» wiederholt zu Lavater. Es ist Hans Konrad Escher. Er möchte erfahren, wie es stehe. «Als ich zum dritten Male kam», so erzählt Escher, «um Lavater zu fragen, ob er den Ausgang noch nicht wisse, stand der liebe ehrwürdige Mann an der Treppe und rief mir zu: Er ist gerettet, der alte Bodmer; ihm und allen übrigen ist das Leben geschenkt. Wir drückten uns voll Freude die Hände»
Die sechs Hauptangeklagten sind aber nicht etwa freigesprochen, sondern zu Zuchthausstrafen von zehn bis zwanzig Jahren oder sogar auf Lebenszeit verfällt worden. - Bodmer teilt man mit, daß er zum Tode verurteilt sei und führt ihn zum Rabenstein. Gefaßt, aber mühsam stapft der alte Mann mit seinen geschwollenen Beinen dahin. Auf dem Richtplatze hat er – mit entblößtem Nacken - hinzuknien. Der Henker schwingt sein Schwert, hält aber im rechten Augenblicke inne. Dann verkündet man Bodmer, die Obrigkeit habe das Todesurteil aus besonderer Gnade in lebenslängliches Gefängnis umgewandelt.
Die Gemeinde Stäfa muß Kriegskosten entrichten, und 260 Personen werden zu Geld- und Ehrenstrafen verurteilt. Die Bewohner der blühenden Dörfer am See sind traurig und aufs tiefste
erbittert. Sie schauen sehnsüchtig nach Frankreich. Und selbst redliche und wackere Männer beginnen zu denken: «Unsere wahren Brüder und Bundesgenossen sind nicht die einheimischen Aristokraten, sondern die Soldaten der französischen Heere.» Sie haben die Tyrannen in ihrem Lande gestürzt und werden uns einst helfen, auch die unsrigen zu beseitigen.