Darauf schwuren die Untertanen, die sich in der Kirche eingefunden hatten, Treue und Gehorsam und brachen stürmisch in den Ruf aus: «Unser gnädigster Landvogt und die hoch verehrten Abgeordneten der zwölf Kantone sollen hochleben! hochlebenl hochlebenl»
Die Vertreter der zwölf Orte antworteten: «Es lebe die edle Stadt und Vogtei Lugano !»
Der neue Vogt mußte auch schwören, daß er sein Amt nicht erkauft habe. Als einmal ein Vogt aus Uri einen solchen Eid ablegte, sagte der urnerische Abgeordnete zum bernischen: «Er mag schwören, wie er will; jedermann weiß, daß ihn die Vogtei 3000 Gulden gekostet hat !»
Wie regierten die Vögte in Lugano nun? Wenn sie ihr Amt ersteigert, nerkauft oder durch Bestechung erworben hatten, so nahmen sie, trotz ihres Eides, große Geschenke an und gaben als Richter der Partei recht, die ihnen mehr <<spendierte». Auch verhängten sie zu hohe Bußen, weil sie einengewissen Teil behalten durften.
Oft kam es vor, daß Mörder oder andere Verbrecher ins Ausland flohen. Waren sie arm, so mußten sie dort bleiben, wenn sie nicht ihr Leben aufs Spiel setzen wollten. Hatten die Übeltäter aber reiche Verwandte, die dem Vogt Geld gaben, so konnten sie ruhig zurückkehren. Es wurde ihnen keinHärchen gekrümmt. Der Vogt brach auch in diesem Punkte seinen Eid: Er verfolgte und bestrafte also «Verbannte, Gauner, Mörder und Fälscher» oft nicht.
Wie in der Waadt, so wucherte auch im Tessin eine schreckliche Prozeßsucht. Über ihre üblen Folgen bemerkt ein bernischer Patrizier: «Die tessinischen Bezirke haben für nützliche Dinge nie Geld. Sie haben weder Ärzte noch Schulen, noch Geld für Arme, keines für Straßen und Brücken; nur für Prozesse sind sie alle reich. Locarno, ein Städtchen von 1074 Seelen, hat 35 Advokaten. Sie machen eine eigentliche Zerstörungsfabrik aus.»
In einer Hinsicht hielten die Landvögte ihren Eid. Sie sorgten wirklich dafür, «daß alle Satzungen und Vorrechte erhalten» blieben. Und die Rechte und Freiheiten der Tessiner waren nicht gering.
Eine jede Gemeinde der Herrschaft Lugano konnte mindestens einen Vertreter wählen. Die so Ernannten versammelten sich und berieten über Ausgaben und Einnahmen, setzten die Lebensmittelpreise fest und bezeichneten die unteren Beamten. Der Landvogt durfte den Sitzungen beiwohnen; aber vor den Abstimmungen mußte er den Beratungsraum verlassen.
So waren die schweizerischen Untertanen nirgends rechtlos. Im Gegenteil, in ihren Gemeinden durften sie sich mit politischen Angelegenheiten beschäftigen. Sie hatten darum das Gefühl: Hier sind wir selbst Herr und Meister; hier befehlen wir und niemand sonst. Im Ausland verhielt sichdas ganz anders.
Überdies gab es in manchen gemeinen Herrschaften auch gute und rechtschaffene Landvögte. Es ging nicht überall so zu und her wie im Tessin.