Die Versuchung

Die Familie bewohnte ein ländliches Herrschaftshaus in einem behäbigen Bauerndorf. Alles darin war urchig und altväterisch. Über Haus, Hof und Garten führte die Mutter ein strenges, aber gerechtes Regiment.

Frau Oberscht, wie man sie allgemein nannte, herrschte nicht nur über den Haushalt und die Angestellten, sondern auch über den Gatten und die vier Söhne. Sie besass aber ein gütiges Herz und einen feinsinnigen Humor, was dem Haus eine ausgesprochen fröhliche und gemütliche Atmosphäre verlieh.

Seit ungezählten Jahren kam eine Frau aus dem Dorf und half täglich bei den Hausarbeiten. Das Mädi, wie sie hiess, war gross und mager, hatte Kräfte wie ein Mann und mahnte irgendwie an ein Pferd. Mit der Meisterin verstand sie sich gut, auf ihre wortkarge Art wohlverstanden, denn Mädi war keine Schwätzerin.  Wenn sie am frühen Morgen erschien, stellte sie ihren grossen Deckelkorb stets an den gleichen Platz, hinter dem Haus beim Küchenausgang.

Mit der Zeit war es der Hausfrau aufgefallen, dass Mädi abends daran bedeutend schwerer zu tragen schien als am Morgen und so untersuchte sie einmal dessen Inhalt. Erstaunt stellte sie fest, dass da allerlei Vorräte eingepackt waren, die weit über das übliche Mass von etwaigen Mahlzeitresten gingen.

Dieser Hamsterei musste ein Riegel geschoben werden! Kurz entschlossen nahm sie einige Würste und anderes daraus, liess aber einen Rest zurück. Von nun an geschah es täglich, dass die Meisterin gegen Abend den Korb untersuchte und herausnahm, was ihr zu viel schien. Kein Wort wurde darüber gesprochen. Zwischen ihr und Mädi kam es einfach zu einer stillen Vereinbarung. Und so blieb es auf die Dauer.

Eines Nachts aber geschah etwas Besonderes: Haus und Hof lagen in tiefem Schlaf, nichts war zu hören als das ruhige fliessen des Brunnens vor den Fenstern und etwa der Ruf eines Käuzchens auf Fledermausjagd. Plötzlich erwachte die Mutter an einem ungewohnten Geräusch. Sie lauschte in die Nacht hinein und vernahm es wieder: ein deutliches Plätschern im Brunnen, dann Stille und wieder Plätschern. Als sie leise zum Fenster hinausschaute, stockte ihr der Atem.

Im hellen Mondschein stand eine hohe Gestalt am Brunnen, zwei entblösste Arme schwaderten im Wasser herum und fischten sich etwas daraus. Das war denn doch der Gipfel! Frau Oberscht hielt sich nicht mehr: «Mädi, la das si! Mer hei morn Visite!» rief sie hinunter. Erschrocken liess Mädi ihre Beute fahren und verschwand im Dunkeln.

So war es also nichts mit dem Traum, sich ein schönes Stück «Rots vom Trog» zu ergattern, das zum Wässern in den Brunnen gelegt worden war...