Radikale Politiker des 19. Jahrhunderts

Von den acht bernischen Bundesräten seit 1848 stammten die sechs ersten aus dem Seeland oder haben längere Zeit dort gelebt. Es weist das auf lebhaftes Interesse unserer Bevölkerung an der Politik und an den öffentlichen Angelegenheiten hin. Allzu lange hatte das Patriziat die Regierung als seine ausschließliche Domäne betrachtet und dem Dorf jede Anteilnahme, jede Aktionsfähigkeit verwehrt. Nun brach es ausder Tiefe des Volkes mit Ungestüm hervor.

Mit Stämpfli von Janzenhaus, Ochsenbein und Alexander Funk von Nidau, den Brüdern Eduard und Cäsar Blösch von Biel, Johann Rudolf Schneider von Meienried, Arzt in Nidau, und Niklaus Niggeler von Ottiswil stellte das Seeland in der Erneuerungszeit eine geistige Auslese, eine Gruppe von Kämpfern, die echtes, bernisches Volkstum vertrat. Eine Zeit lang hieß es, die Schweiz werde von Nidau aus regiert. - Nur Karl Neuhaus von Biel, der erste Nichtpatrizier auf dem Schultheissenstuhl, paßte nicht zu diesen Tribunen. In seiner autoritären Art war er eher ein Vertreter individualistischen Denkens. – In den Verfassungskämpfen von 1845/46 für eine neue Staatsverfassung, in der Vorberatungskommission und im Verfassungsrat beherrschten diese Seeländer weitgehend das Feld, bestritten die Diskussion.

Niklaus Niggeler (1817-72) besuchte die Primarschule des Dorfes Ottiswil und für einige Zeit das Institut Allemann in Kirchlindach. Nach der Admission trat er als Lehrling in die Amtsschreiberei Aarberg ein. 1836/37 kam er nach Bern, um die Rechte zu studieren. Er hatte bei Professor Wilhelm Snell Kost und Zimmer, half mit dem späteren Bundesrat Dubs u.A. die akademische Helvetia reorganisieren und durch schriftliche Abhandlungen und mündliche Vorträge neu beleben. In den Hörsälen und im Verein fiel er durch rasche Auffassungsgabe und Verstandesschärfe auf und bestand 1841 glänzend die Prüfung als Fürsprecher und Notar. Er war bald einer der gesuchtesten Anwälte der Stadt Bern.

Mit Stämpfli war er durch viele Bande verknüpft; sie waren in nächster Nähe von einander aufgewachsen, ihre Gattinnen waren Töchter des Professors Snell. Mit Ochsenbein nahmen beide am Freischarenzug teil und wurden vom Volk bei der Heimkehr als Helden gefeiert. Als die Regierung Professor Snell als geistigen Urheber dieser Bewegung wider die Jesuiten in Luzern abberief, hatte sie es mit dessen Schwiegersöhnen zu tun. Mit diesen radikalen Löwen verstand Schultheiß Neuhaus nicht zu fechten. Er wurde nach Abschluß der Verfassungskämpfe gestürzt.

Niggeler war bereits 1846 im Großen Rat, den er 4mal präsidierte. 1848-50, 1854-60 saß er im Ständerat, 1860-66 im Nationalrat. Im letzteren hatte er 1866 den Vorsitz inne. 1846 kam er in die Vorberatungskommission, da besorgte er die Redaktion von vielen Entwürfen und Gesetzen. Längere Zeit war er auch Mitglied der Kollegien zur Prüfung der Fürsprecher. Er schrieb eine Geschichte der bäuerlichen Lasten in der deutschen Schweiz und war Herausgeber einer Sammlung von Zivil- und Zivilprozessgesetzen. In der von Stämpfli gegründeten «Berner Zeitung» wurde er dessen Nachfolger in der Redaktion. - An Scharfblick, gesundem Urteil, ruhiger Überlegung und klugem Rechnen mit den gegebenen Verhältnissen habe ihn keiner übertroffen, hieß es in der Zeitschrift für Juristen Nr. 7, S. 321.

Sein Sohn Rudolf Niggeler (1845-87) war bereits mit 30 Jahren Bundesrichter. Er saß auch mehrere Jahre im Nationalrat. Neben juristischen Schriften verfaßte er einen Band Gedichte. Es hieß von ihm, daß, je schwieriger die Fragen des Rechts und der Gesetzgebung lagen, um so mehr war es für ihn eine Lust, sie zu ergründen und bis in die letzten Probleme klarzulegen. Leider starb er in der Blüte der Jahre. Ein weiterer freisinniger Führer der 1848er Zeit war Johann August Weingart (1797-1878) von Radelfingen. Zuerst war er Lehrer in Grossaffoltern und 1830 am Progymnasium Biel. Als er 1836 wegen seiner politischen Tätigkeit seine Stelle verlor, wurde er Buchdrucker und gab den «Seeländer Anzeiger» heraus. 1845 wurde er im Wahlkreis Aarberg für den Großen Rat gewählt. Seine Freunde mußten ihm den für die Wählbarkeit vorgeschriebenen Betrag von 5000.- Fr. vorschießen. Im Verfassungsrat war er ebenfalls ein sehr tätiges Mitglied. Aus seinen Voten sprach ein sozialer Zug, er wehrte sich für die Menschenrechte und für die Armen. Von 1848-60 saß er im Nationalrat. In blumiger, beschwingter Sprache vertrat er Anschauungen der Linksradikalen.

Jakob Stämpfli (1820-79) gilt mit Recht als der bedeutendste bernische Staatsmann der Neuzeit; er war Nationalrat, Ständerat, Bundesrichter und von 1854-63 Bundesrat. Seine vielseitige, erfolgreiche Tätigkeit im Dienst der Öffentlichkeit ist ein Stück bernischer und Schweizer Geschichte. Bemerkenswert ist u. a. bei ihm als Bauernsohn mit freisinniger Weltanschauung die Betonung des Staates und der staatlichen Intervention. Der von ihm geforderte Bau der Eisenbahnen durch den Bund hätte unserm Land viele schmerzliche Erfahrungen erspart. Als 26jähriger hat er als Sekretär der Redaktionskommission die bernische Staatsverfassung von 1846 zur Hauptsache verfaßt. Während dieser Verfassungskämpfe wurde am 27. Mai 1845 in seinem Heimatort Schwanden bei Schüpfen der bernische Volksverein gegründet. Das war in unserm Kanton der Vorläufer der freisinnigen Partei. Stämpfli war der erste Präsident. Professor Feller bezeichnet diese Gründung als eines der wichtigsten politischen Ereignisse des 19. Jh. im Kanton Bern.

Schwanden ist damit eine der Geburtsstätten der freisinnig-demokratischen Partei der Schweiz. Diese regierte während 75 Jahren ohne wesentlichen Parteiapparat als Mehrheitspartei bis 1919 im Kanton und im Bund. Im parteipolitischen Geschehen ist das ein unerreichter Rekord. Es gehört zu Stämpflis bemerkenswertesten Erfolgen, daß er mit dem konservativen Bauernstand als Hausmacht eine radikale Partei schuf. Die Richtlinie «konservativ im Hause, liberal nach außen» fand damit ihre glänzende Bewährung.

Das schönste Denkmal hat sich von den Politikern der Verfassungskämpfe Johann Rudolf Schneider (1804-80) mit der Jura-Gewässer-Korrektion (1868-78 bzw. 1891) geschaffen. Es wurde darüber eingehend geschrieben, besonders von Schneider selbst. Als bernischer Regierungsrat von 1838-50 war er wiederholt Gesandter zur Tagsatzung und ihr Vizepräsident während des Sonderbundskrieges. Er war Mitglied des politischen Bundes «Junges Europa» und Mitgründer der «Jungen Schweiz» 1835. Als langjähriger Präsident der bernischen medizinischen Gesellschaft hat er große ärztliche Verdienste. Dem Großen Rat gehörte er von 1834-68, dem Nationalrat von 1848-64 an.

Um nicht über die Jura-Gewässer-Korrektion schon Geschriebenes zu wiederholen, erwähne ich hier nur ein Stück Volkskunde, wie ich es in meiner Jugend erzählen hörte. Alljährlich überschwemmte die Aare unter zwei Malen mehr oder weniger stark die Gegend Aarberg- Büren. Die Gesundheit des Volkes litt unter der Versumpfung sehr, die Lische hieß in der Gegend «Worbenklee». Erscholl der Ruf «d'Aare chunnt», gingen sie mit den Geißen auf die Bühne oder ins Gaden. Die auf dem Felde Arbeitenden mußten sich manchmal auf die Sarbäume flüchten. In der Mitte des Gebietes liegt Worben, von dem das «Lied vom Dorf a dr Aar» zu singen weiß:

U We me dr Aar no witer got,
So chunnt me de uf Worbe,
Die Bessere dört tüe Bäse binge
Die angere tüe chorbe.
U Meiteli wed hürote wit
Hürot mer nit uf Worbe,
Im Summer muesch de Widli schinde,
Im Winter muesch se chorbe.

Heute liegt hier eine der am intensivsten bebauten Gegenden der Schweiz. Eine Wanderung von Biel nach Schnottwil oder von Kallnach über Kappelen-Worben bis hinunter in die Grenchen-Witi zeigt im Monat Juni in stetem Wechsel üppige Wiesen, blühende Kartoffeläcker, Zuckerrüben mit mastigem Kraut und wogende Getreidefelder; Schöneres dieser Art kann das Auge kaum erschauen.