6 Heimschaffung von Kriegsgefangenen und Flüchtlingen
Nach der Unterzeichnung der Friedensverträge in Versailles konnten die Kriegsgefangenen in den west- und mitteleuropäischen Staaten heimkehren. Hunderttausenden aber im unruhigen Rußland, am Schwarzen Meer, in Turkestan und vor allem in Sibirien war die Heimkehr unmöglich, weil sie keine Geldmittel und keine Reisegelegenheit hatten. Anfangs des Jahres 1920 kam zuverlässiger Bericht: Im folgenden Winter werden sehr wahrscheinlich gegen 200‘000 Kriegsgefangene oder mehr, die in den fürchterlichen Gefangenenlagern Sibiriens zurückgeblieben sind, verhungern, erfrieren, im Ungeziefer umkommen oder sonst verderben, wenn sie nicht sofortige Hilfe erhalten. - Der Völkerbund entschloß sich, einzugreifen und die Heimschaffung der Gefangenen mit der gleichen Energie zu betreiben wie einen großen militärischen Angriff. Der Feldherr, der diesen neuartigen Angriff leitete, fand sich in dem norwegischen Forscher und Menschenfreund Fridtjof Nansen. Als der 60jährige Mann den Auftrag zu diesem Hilfswerk erhielt, lehnte er zuerst ab; er wollte bei seinen Büchern, seinen Forschungen, seinen Freunden und seiner Familie bleiben. Da reiste ein Bote des Völkerbundes nach Norwegen und überredete Nansen. Mit größtem Wagemut übernahm er die Riesenaufgabe. Ob er Erfolg haben werde, wußte er nicht. Er wußte nur, daß es der Mühe wert sei, den Versuch zu machen.
Ein ungestümes Wirken begann. Er reiste von einem Land zum andern, ernannte in den verschiedenen Staaten Kommissionen und bevollmächtigte Vertreter, trat in Verbindung mit dem internationalen Arbeitsamt und den vielen bestehenden Hilfsvereinen, vor allem mit dem internationalen Komitee vom Roten Kreuz und dessen Präsidenten, einem Genfer. Nansen verteilte die Arbeiten und unterhandelte mit Regierungen und Gesellschaften, damit sie ihm Schiffe und Eisenbahnzüge überließen und Beiträge bezahlten. In zwei Jahren und drei Monaten wurden über 427 000 Menschen, die 26 Völkern angehörten, in ihre Heimat zurückgeführt. Sehr erschwert wurde das Werk dadurch, daß die Gefangenen an tausend verschiedenen Orten gesucht und abgeholt und wieder an tausend verschiedene Orte hintransportiert werden mußten.
Kaum weniger bedrängt als die Kriegsgefangenen waren die Flüchtlinge. In China und Europa irrten z. B. etwa anderthalb Millionen Russen herum, ohne Geld und Arbeit. Es gelang, auch ihre Not etwas zu lindern: Eine große Zahl erhielt im Laufe der Jahre wieder Arbeit und bescheidenen Lebensunterhalt.
Da kam neues Unheil. Noch einmal brach zwischen Türken und Griechen Krieg aus. Hunderttausende von kleinasiatischen Griechen verbrannten ihre Wohnstätten und flüchteten Hals über Kopf. Weder Kleider noch Lebensmittel vermochten sie mitzunehmen; die Furcht vor den Türken trieb sie zu fast wahnsinniger Hast. Die Städte am Ägäischen Meer, z. B. Smyrna, Magnesia und auch die Inseln vor der Küste, füllten sich mit „verängstigten, atemlosen, zerlumpten, übermüdeten, hungernden, fiebernden Menschen“. Es waren meistens Frauen, Greise und Kinder; die Männer waren zu einem großen Teil im Kriege umgekommen oder von den Türken aus dem Lande geführt oder zu Staatsarbeit gezwungen worden.
Auf Nansens Antrieb faßt die Völkerbundsversammlung vom September 1922 rasche Entschlüsse. Wiederum beauftragt der Völkerbund ihn mit dem Hilfswerk und sorgt im folgenden Jahre dafür, daß die griechische Regierung ein Anleihen erhält. Von neuem eilt Nansen, bald in den großen internationalen Expreßzügen, bald im Auto, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt und gibt seinen Sekretären, oft in wenigen Augenblicken, genaue Anweisungen über Bezug von Lebensmitteln und Durchführung der Menschentransporte. Nansen erkennt: Wenn Griechen und Türken und andere Völkerschaften mit ihren verschiedenen Sprachen und Religionen wie bis dahin bunt durcheinander wohnen, so gibt es niemals Ruhe und Frieden zwischen ihnen; das Beste ist, die Bevölkerung auszutauschen, so daß in den einen Gegenden nur Türken und in den andern nur Griechen leben.
Auf Nansens Vorschlag beschließt dies die Friedenskonferenz in Lausanne.
Eine neue Völkerwanderung beginnt. Anderthalb Millionen griechischer Flüchtlinge sind unterwegs, von Krankheit und Hunger verfolgt. Auf den Strandstraßen der Hafenstädte in Athen, Saloniki und Konstantinopel liegen sie schutz- und obdachlos, Männer und Frauen, Alte und Junge, Gesunde und Sterbende, durcheinander in einem furchtbaren Schmutz, die meisten damit beschäftigt, sich das Ungeziefer vom Leibe zu entfernen. Große Scharen müssen die nassen und kalten Monate im Freien zubringen, ohne Decken und Winterkleider. Andere werden in Lager zusammengepfercht, in denen ansteckende Seuchen überhand nehmen; die Verschleppungsgefahr ist groß; so müssen Wartezeiten innegehalten werden. Schließlich gelingt es Nansen und seinen Mitarbeitern, wenigstens einem Teil der Flüchtlinge zu helfen. In Thrakien, wo fruchtbares Ackerland unbenutzt liegt, dürfen sie reuten, pflügen, Ziegel brennen und Wohnstätten errichten. Der Völkerbundsrat bringt Kapitalien zusammen und setzt eine neue Kommission ein. Unter der Leitung eines Amerikaners baut sie bis zum Herbst 1928 76‘000 Häuser und siedelt 143 000 Familien auf dem Lande und 28 000 Familien in Städten an. Die Landbewohner pflanzen Getreide, Wein, Tabak, Hanf und Gemüse und treiben Vieh- und Seidenraupenzucht. Am Tag nach Nansens Tod, im Mai 1930,kann im Völkerbundsrat die Mitteilung gemacht werden: Die letzten flüchtigen Griechen haben soeben wieder Haus und Heim gefunden.
Im Herbst 1922, zur Zeit, da die wilde Flucht der geschlagenen Griechen begann, traf eines Tages in Genf die Meldung ein: Vor den Toren Konstantinopels stehen 300‘000 armenische Flüchtlinge und wissen nicht wohin. Im Weltkrieg waren etwa zwei Drittel des armenischen Volkes gefallen oder von den Türken ausgerottet worden. Die Überlebenden hofften, die Siegermächte würden, wie sie versprochen hatten, dafür sorgen, daß Armenien wieder zu einem selbständigen Staate werde. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Der Völkerbund hat für die Armenier wenig getan. Einige Tausend sind in Frankreich und Südamerika und einige Zehntausend in Syrien angesiedelt worden. Im Jahr 1929 rechnete der Völkerbund damit, daß er noch ungefähr zehn Jahre lang Hilfswerke für die Flüchtlinge der verschiedenen Völker leiten und unterstützen müsse. So langsam vernarben Kriegswunden. Noch heute pilgern Scharen von unglücklichen „Staatenlosen“ durch Europa. Allein infolge der Aufteilung
der Donaumonarchie haben etwa 100‘000 Personen ihr Bürgerrecht verloren, indem sie sich vor neuen Gewalthabern flüchteten oder sich nicht rechtzeitig für die Zugehörigkeit zum einen oder andern Staat entschieden. -- Wann werden die friedlosen Wanderer Ziel und Heimat finden? Und wann wird der Krieg, der die Völker und die einzelnen elend macht, überwunden sein?
Nansen: « Es ist recht, wenn der Völkerbund sich um die Heimbeförderung der Gefangenen bekümmert. Aber die wahre Lehre, welche das Werk mich gelehrt hat, lautet: Der Völkerbund muß für alle Zukunft die Wiederkehr von Katastrophen verhindern, welche den Menschen so schreckliche Leiden bringen.»