5 Die Schweiz und Frankreich vor dem obersten Gerichtshof der Welt

Nach Ende des Weltkrieges entstand zwischen Frankreich und der Schweiz ein Streithandel darüber, wo die Zollgrenzen in der Umgebung von Genf durchgehen sollten. 1923 versuchte Frankreich die Zollordnung, die seit 1815 in jenen Gebieten galt, nach seinem Belieben abzuändern. Die Schweiz erklärte unwillig: Das ist Rechtsbruch, den ich mir nicht gefallen lasse. In den folgenden Jahren vereinbarten die beiden Staaten miteinander, ihren Zwist dem internationalen Gerichtshof im Haag vorzulegen. Beide Länder sandten wiederholt rechtskundige Männer hin, welche die Ansichten ihres

Heimatstaates darlegen und verteidigen sollten. Der Führer der schweizerischen Abordnung war Professor Logoz; an der Spitze der französischen stand Paul-Boncour.

Über den zweiten Abschnitt des Prozesses berichtet Redaktor W. von Greyerz: 
« Haag, im Oktober 1930.

Wenn die Uhr, ein Geschenk der Schweiz, am hohen Turm des machtvollen Gerichtsgebäudes halb elf Uhr zeigt, beginnen die Verhandlungen vor dem ständigen internationalen Gerichtshof. Sie entbehren nie einer außergewöhnlichen Feierlichkeit. Wie könnte es auch anders sein in diesen weiten Hallen, den riesigen Sälen und vornehmen Gemächern! Diener öffnen den Wagenschlag, wenn Herr Paul-Boncour vorfährt; auf Teppichen eilt man zum Pult, wo Papier, Bleistift und Wasserglas bereit stehen. Das Licht dringt ein durch bunte Glasscheiben, wenn nötig verstärkt durch sechs große Kronleuchter. Auf den Ruf: Der Gerichtshof ! erhebt sich alles, und in feierlichem Gänsemarsch erscheinen die zwölf Richter in schwarzen Talaren, um ihre erhöhten Sitze einzunehmen. Wenn der schlanke Gerichtsschreiber sich als letzter setzt, dann ist das Zeichen dafür gegeben, daß auch Parteien, Zuschauer und Berichterstatter der Zeitungen sich auf ihre Stühle niederlassen dürfen.

In dem hohen Gericht herrscht das Silberhaar vor, wenn der Träger nicht überhaupt auf diesen Schmuck verzichtet hat. - Die richterliche Tätigkeit besteht vorläufig im Zuhören und Schweigen. Das hohe Gericht ist vorbildlich in seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Nur wenn der englische Übersetzer spricht, hört man in der feierlichen Ruhe da und dort eine Hand in den Schriftstücken blättern. Der Gerichtshof schaut herab auf die beiden Lager der Parteien, zur Linken auf die sechsköpfige Abordnung der Schweiz, zur Rechten auf die kleinere Gruppe der Franzosen, aus welcher der rote Professorenmantel Basdevants hervorleuchtet. Jede Gruppe geht ihre eigenen Wege, und nur ganz ausnahmsweise sieht man nach der Sitzung die schlanke Gestalt Professor Logoz im Gespräch mit seinem Widersacher.

Weibel im Amtsfrack, eine flüsternde Sekretärin, Stenographen und drei bewundernswerte Übersetzer stehen dem Gerichte zu Diensten. Es benimmt sich jedermann so, wie es der feierlichen Würde dieses Gerichtshofes ziemt. Wer etwa zu schlafen sich erfrecht, wie neulich der müde Zuschauer auf der Galerie, wird freundlich auf das ganz Ungebührliche eines solchen Betragens aufmerksam gemacht.»

Professor Logoz spricht drei Tage lang. Ebensoviel Zeit braucht Paul-Boncour. Dann folgen erst noch von beiden Seiten eine Reihe von Entgegnungen und Widerlegungen. Schließlich erklärt der Gerichtshof die Verhandlungen für beendigt und zieht sich zurück, um das Urteil zu beraten. Nach Verlauf von einigen Tagen verkündet er: In der wichtigsten Streitfrage befindet sich die Schweiz im Recht; in einem andern Punkt muß man zum Teil Frankreich zustimmen; die beiden Staaten sollen nochmals versuchen, sich untereinander zu verständigen. Gelingt das nicht, so wird das Gericht einen weiteren Spruch fällen. - Im Jahre 1932 geschah dies (nach neuen weitläufigen Verhandlungen vor dem Weltgerichtshof). In der Hauptfrage wurde wiederum die schweizerische Auffassung als richtig erklärt.