Schlange stehen

Die zugeteilten Lebensmittel machten 24 % des gewöhnlichen Bedarfes aus. Dieses wenige war zudem nur unter großen Mühseligkeiten erhältlich und oft überhaupt nicht. Zuverlässige Wiener, diein einer Spätherbstnacht Beobachtungen sammelten, berichten:

«Es ist abends elf Uhr, als wir an dem Siemeringer Kirchenplatz eintreffen. Auf einem niedrigen Gitter sitzt ein blasses, fröstelndes Kind. Wir fragen, was es hier mache. - Es warte auf das Öffnen des Geschäftes, um ein Kilo Mehl zu holen. - Der Mehlverkauf beginnt um sieben Uhr früh. - Warum sie komme und nicht die Mutter. Weil die Mutter an Ischias leide; der Vater arbeite in einem auswärtigen Kriegsbetrieb, es habe noch vier jüngere Geschwister.

Die Uhr zeigt halb zwölf. Jetzt sind, genau gezählt, 21 Kinder, 26 Frauen und 3 Männer auf dem Platz, insgesamt 50 Personen. Ein Geschwisterpaar ist da, ein 12 jähriger Bub und ein 14 jähriges Mädel.Beide waren in der gleichen Woche schon zweimal umsonst von zwei Uhr nachts bis sieben Uhr früh „angestellt“. Als sie an die Reihe kamen, war kein Mehl mehr da. Darum sind sie heute früh zu zweitgekommen. Die nächsten fünf Kinder liegen aneinander gereiht auf dem Boden, unter sich einige alte Lumpen ausgebreitet. Keines vermag in der naßkalten Nacht im Freien den Schlaf zu finden.Um drei Uhr kommen wir wieder auf den Platz. Nun ist die Menge auf das Doppelte angewachsen. Eine Schar der jüngeren Kinder trollt sich auf der Siemeringer Hauptstraße umher. Anders dieKleine, die zuerst da war. Sie liegt, wie ein Klumpen, mit einem großen Umhängetuch vermummelt, auf den Steinfliesen, die Knie fast bis zum Hals gezogen.»