Der Krieg bedrängt unser Wirtschaftsleben
Die Schweiz wurde nicht in den Krieg verwickelt, bekam ihn aber gleichwohl zu spüren, zunächst dadurch, daß unsere Soldaten zum Wachtdienst an die Grenze ziehen mußten. Dann war es in den kriegführenden Staaten und auch in vielen andern Ländern unmöglich, ebenso viele zum Leben notwendige Güter zu erzeugen wie im Frieden; denn es fehlte an Arbeitskräften. Auch verwandte man die Rohstoffe zu einem großen Teil zu Kriegsmaterial, z. B. Eisen, Kupfer, Gummi, Holz. Und was man erzeugte, konnte man nur mit Mühe und Gefahr an den Bestimmungsort bringen. Die Verkehrsmittel wurden zum Transport von Truppen, Waffen, Munition usw. beansprucht.
Schiffe samt ihren Ladungen versanken im Meer. So stiegen die Versicherungsprämien bei der Seefracht gewaltig. Man schlug diese Auslagen auf den Preis der Waren. Das alles, die Knappheit der Arbeitskräfte, der Rohstoffe, der Waren, der Verkehrsmittel, bewirkte, daß die Nachfrage weit größer war als das Angebot. Aus diesen und aus andern Gründen stiegen die Preise. Spekulanten und Wucherer trieben sie noch höher. Unter dieser Teuerung und Güterknappheit litt auch unser neutrales Land. Schon die Beschaffung des täglichen Brotes wurde schwer. Vor Ausbruch des Weltkrieges reichte das inländische Brotgetreide nur etwa für zwei Monate aus. Für die übrige Zeit des Jahres bezogen wir das Mehl aus Rußland, Ungarn und andern Ländern. Bis Ende des Jahres 1916 gelang es, das gewöhnliche Quantum ins Land zu bringen. Von da an verminderten sich unsere Getreidevorräte langsam, aber stetig; zum Teil deshalb, weil Deutschland den scharfen Unterseebootskrieg eröffnete, die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg eintraten und der Frachtraum neutraler Schiffe dadurch immer kleiner wurde. Im Frühjahr 1917 waren die Ernteaussichten in Nordamerika sehr schlecht. Das bereitete den schweizerischen Behörden, vorab den Mitgliedern des Bundesrates, bange Stunden. Was ist zu tun? fragten sie bedenklich. Sie verordneten: Es darf nur zwei- oder mehrtägiges Brot verkauft und kein Backmehl verfüttert werden; auch ist es verboten, Lebensmittel anzuhäufen. Im Oktober 1917 wurde bestimmt: Eine jede Person hat Anspruch auf eine tägliche Brotration von 250 Gramm; Minderbemittelte erhalten 300 Gramm, Schwerarbeiter 350 und Kinder unter zwei Jahren 150 Gramm. Zu Anfang des Monats wurden allen Familien und Einzelstehenden „Brotkarten“ zugeteilt. Beim Einkauf mußte man dem Bäcker entsprechende Brotkartenabschnitte abgeben, für ein Kilo einen Abschnitt von 1000 Gramm usw. Später mußten die Rationen etwas verkleinert werden. Der Brotpreis stieg. Im April 1914 kostete ein Kilo 34, im Juli 1919 dagegen 73 Rappen. Um den drohenden Getreidemangel zu bekämpfen, verordnete der Bund weiter, die schweizerische Anbaufläche sei umso und soviele Hektaren zu vergrößern. Die Bauern hatten ihre Betriebe danach einzurichten und mit Pflug, Hacke und Erntegeräten schwere Tagewerke zu vollbringen. Die Landesbehörden wirkten bei dieser Vergrößerung des Ackerlandes mit, indem sie auf zehn Waffenplätzen durch die dort diensttuenden Truppen Getreide bestellen ließen. Im Frühjahr 1918 verschwanden auch manche Parkanlagen und Rasenflächen in den Städten. Sie wurden zu Kartoffelfeldern und Gemüsegärten umgewandelt, so z. B. die große Wiese vor dem Bahnhof Zürich-Enge, wo sich sonst Vergnügungslustige bei Rößlispiel und Seiltänzern eingefunden hatten. Schon vorher waren am Rande der Stadt Bern eine Menge von kleinen Gärten entstanden.
Ganz ähnlich wie den Brotverbrauch ordneten Bund oder Kantone den Konsum von Käse, Butter, Milch, Kochfett, Teigwaren usw. Auch sie wurden immer knapper. Das zeigte sich vor allem im Steigen ihrer Preise. z.B. galten hundert Kilo Hartkäse (Emmentaler oder Greyerzer) vor dem Krieg 195, nach dem Krieg 740 Franken. Noch rarer als die Lebensmittel wurden die Rohstoffe. Seit dem Herbst 1917 stockte die Zufuhr von Rohbaumwolle derart, daß kaum mehr die Hälfte der Spinnereien den Betrieb aufrecht erhalten konnten. Kohle kam ebenfalls zu wenig ins Land. Der Preis stieg aufs Fünffache. Gaswerke und mit Dampf betriebene Bahnen bekamen den Mangel scharf zu spüren. Es mußten jetzt Holz, Torf und Karbid zur Vergasung verwendet werden. Die Hausfrauen standen oft verdrießlich vor ihren Pfannen, weil das Gas nicht mehr so gut und so reichlich zu haben war wie einst. Glücklich, wer noch Holzherd und Ofenheizung besaß! Schiffe und mit Dampf betriebene Bahnen schränkten ihren Betrieb ein. Seit dem Dezember 1918 gab es keine Schnell- und Extrazüge mehr, ja der Sonntagsverkehr wurde auf den „Kohlenlinien“ ganz eingestellt. Da hieß es: Bummler, gehe zu Fuß oder bleibe zu Haus. Die Fahrpreise stiegen, die Retourbillette wurden abgeschafft. Infolge des Kohlenmangels entschlossen sich die Bundesbahnen, zum elektrischen Betrieb überzugehen. Ihre ersten umgebauten Strecken waren Bern-Thun und Sitten-Brig. In Stuben und Küchen hielten vielfach elektrischer Heizofen und Kochherd ihren Einzug. Weil auch Petroleumnot bestand, führten selbst entlegene Ortschaften elektrische Beleuchtung ein; ja, mitten durch Wiesen und Matten eilten jetzt Stangen und Drähte um den weitzerstreuten Bauernhäusern das neue Licht zu bringen.