Lager und Epidemien
«ln Sibirien wurden die Gefangenen oft in Erdbaracken untergebracht. Diese waren anderthalb bis zwei Meter tief in die Erde eingegraben. Die Grubenwände waren mit Balken verkleidet, die etwasüber den Erdboden reichten und die Stützen für das Dach bildeten. Die schmalen Fenster zu ebener Erde ließen nur wenig Licht hineinfallen. Wenn im Winter sich Wälle von Schnee an die Wände auftürmten, waren die Baracken zwar wärmer, aber auch um so dunkler.
Die einzige Einrichtung bestand aus Pritschen, in zwei bis vier Stockwerken übereinander, die einen Mittelgang und zwei Seitengänge frei ließen.
ln einem Kriegsgefangenenlager Westsibiriens herrschte im Winter 1914 /15 eine schwere Flecktyphus-Epidemie. Für die Kranken gab es ein sogenanntes „Krankenhaus“, das 130 Pritschen mit vermoderten Strohsäcken und etwa 100 Decken enthielt. Dagegen gab es keine Wäsche, keine Arzneien und Instrumente, nicht einmal Seife und Bürsten für die Ärzte.
In zwei Erdbaracken lagen 2300 Kriegsgefangene, Kranke und Gesunde, so dicht durcheinander, daß man in den Gängen über die Körper steigen mußte. Von den Eiszapfen an der Decke tropfte das Wasser, so daß die Pritschen immer naß waren. In einer Ecke lag ein junger Mann. Kein Haustier auf dem Hofe seines Vaters verging so im Schmutz und Ungeziefer wie er. „Grüßen Sie meine Mutter; aber erzählen Sie ihr nie, in welchem Elend ich sterbe !“ war seine letzte Bitte. Die vielen hochfiebernden Kranken erhielten nur Hilfe von einigen Kameraden, deren Arbeit täglich zunahm. Das Essen wurde neben die Kranken gestellt. Wer noch Kraft hatte, aß; die andern hungerten. Tage vergingen, an denen es nicht einen Tropfen Wasser gab. Schwerkranke schleppten sich mit letzter Kraft hinaus, um ihren brennenden Durst mit Schnee zu löschen. Die Kosaken trieben sie mit Schlägen in die Baracken zurück. Nur 70 Mann verließen lebend die eine dieser Baracken, in der einmal 1100 zusammengepfercht gewesen. Von den 8600 Kriegsgefangenen dieses Lagers starben ungefähr 4500.
Die Toten wurden aufgestapelt und blieben liegen, bis sich eine größere Anzahl angesammelt hatte. Dann schafften sie russische Soldaten weg. Derselbe Wagen, der die Leichen zum Massengrab führte,holte das Fleisch für die Kriegsgefangenen.»