Im Schützengraben

Aus dem Buche „Kriegsbriefe gefallener Studenten“, hersg. Von Prof. Dr. Philipp Witkop, München bei Georg Müller, 1928. - Der Theologiestudent August Hopp schreibt:

«Trianville, 1.März 1915.

Immer näher kam der Geschützdonner. Schon sahen wir in der Ferne die Combreshöhe und auf ihr die schwarzen Bahnen der Einschläger und die weißen Wölkchen der Schrapnells. Um halb fünf Uhr waren wir in St. Maurice angelangt. Auf der Straße kam ein Auto nach dem andern vollgepfropft mit stöhnenden Verwundeten; andere fuhren leer zurück; Leichtverwundete kamen dazwischen hergehumpelt. Als die Combreshöhe nur mehr wenige Kilometer vor uns lag, begann, wie wenn sie uns hätten abschrecken wollen, da droben die Hölle. Es war kein einzelnes Krachen mehr, sondern ein unaufhörlicher, markerschütternder Donner. Man konnte die Einschläge nicht mehr unterscheiden; die ganze Höhe glich einem feuersprühenden Berg. Und da hinein mußten wir . _ . Nach dreistündigem langen Warten kam die Entspannung: „Vorwärtsl“ Es war stockfinstere Nacht. Wir marschierten langsam die steile Höhe hinan in grundlosem Schlamm. Alle Augenblicke tappte man in ein Granatloch hinein. Beim Morgengrauen sah man den Tod in den Lauf- und Schützengräben in hundertfacher, furchtbarer Gestalt. Gleich am Eingang lag ein 130er gegen die Brustwehr gelehnt, wie wenn er im Anschlag eingeschlafen wäre, ein kleines, blutiges Loch in der Stirn, kalt und starr. Auf der Sohle des Schützengrabens stauten sich Ströme von Blut. Leichen von Deutschen und Franzosen versperrten in wüstem Durcheinander alle paar Schritte den Weg, so daß man über sie hinwegklettern mußte und dabei mit den kalten Händen und Gesichtern und den furchtbaren blutigen Wunden in Berührung kam. Schlamm und Blut mischten sich an den Stiefeln, Kleidern und Händen. Der Boden war wie von einem Erdbeben zerwühlt; der Schützengraben bestand an manchen Stellen aus einem Chaos von Erde, Steinen, Baumstämmen und Leichen. Man stand und saß auf den Toten, als wenn's Steine oder Holzklötze wären. Ob dem einen der Kopf zerstochen oder abgerissen, dem andern der Brustkorb aufgerissen, dem dritten aus dem zerschlissenen Rock die blutigen Knochen herausragten - das kümmerte einen nicht mehr.

Auch außerhalb des Schützengrabens sah man Tote in allen Stellungen, fast alles Franzosen, die Köpfe von Kolben, sogar von Schaufeln zerschlagen, dazu Gewehre, Ausrüstungsgegenstände, Käppi in Unmenge. Die (deutschen) 154er hatten beim Sturm furchtbar gewütet, als Rache für das französische Artilleriefeuer. Ein Haufen von fünf Leichen lag vorn an der Barriere. Wir mußten ständig auf ihnen herumtreten., sie in den Schlamm hineinquetschen, da wir sie wegen des Artilleriefeuers nicht aus dem Graben schaffen konnten. Auf einmal merke ich mit Schrecken, daß eine von den vermeintlichen Leichen, unter drei andern liegend, sich zu regen beginnt; ein bärtiger, strammer Franzose schlägt die Augen auf und wimınert furchtbar. Er hatte, scheints, in tiefer Ohnmacht die ganze Nacht unter den Leichen gelegen. Wir zogen ihn unter größtem Wehklagen heraus. Ich gab ihm zu trinken, weiter konnten wir ihm nicht helfen. Bald lag er wieder in Ohnmacht. Unsere Gefühle waren allmählich völlig abgestumpft . . . .

Doch das Fürchterlichste kommt erst! Das Bombardement ! Genauso, wie wir es gestern beobachtet hatten, bloß daß wir diesmal selbst mitten drin lagen. Um drei Uhr begann es. Einen nach dem andern erreichte das Geschick. Es war grauenhaft, ich mußte sie immer ermuntern, auszuhalten. Man mußte einander ins Ohr schreien, so donnerte es ringsum. Plötzlich ein furchtbarer Schlag. Man hörte droben, wo drei meiner Schützen gelegen, ein kurzes Röcheln; direkt neben mir zuckte einer noch einmal mit den Beinen, dann Totenstille !

Einem befahl ich zu schießen, da sich unten Franzosen zeigten. Weinend sagte er: „Herr Fähnrich, ich kann nicht mehr“ und hielt mir einen zerfetzten Handstumpen entgegen. Es entrang sich meinen Lippen: „Lieber, guter Gott, hilf, 0 hilf !“ Aber wir wichen nicht aus dem Graben, es donnerte und ratterte unaufhörlich. - Wie wird man da allmählich gefühllos gegen den Tod, kaum daß man sich umdreht, wenn einer zusammenbricht. Am meisten greift einem das Wimmern der Schwerverwundeten ans Herz, wenn man nicht helfen kann.»