Ausbruch
Sommer 1914. Die Städter waren in die Ferien gegangen, und in den Tälern des Oberlandes rückte der Heuet seinem Ende entgegen. Auf den Bergen pflegten die Sennen ihr Vieh und gingen der Arbeit in Weide und Wald nach. Über dem ganzen Bergland schien sommerliche Stille und Frieden zu walten. Da, eines Tages, es war Freitag, den 31. Juli, stürzte die Nachricht in die Täler: In Europa droht der Krieg; die gesamte schweizerische Armee hat sich zum Grenzschutz bereit zu machen. Aufgeregte Fuhrleute riefen die Botschaft den Heuern an den Straßen zu, ohne ihre Rosse anzuhalten. Boten stiegen auf die Berge und eilten mit der Kunde von Alp zu Alp, von Hütte zu Hütte und verweilten nirgends länger als unbedingt nötig. Gleichzeitig wurde die Nachricht auch in den abgelegeneren Talgründen verbreitet. An den Käsereien und Gemeindehäusern der Dörfer konnte man bald neue Plakate sehen, zu denen sich Gruppen von eifrig lesenden Männern und Jünglingen hinzudrängten. Zu Hause fragte manche Mutter ihren Sohn ängstlich: Mußt du auch marschieren?
Samstag, den 1.August, kam die Meldung: Übermorgen ist der erste Einrückungstag. Die Erregung stieg. - Am Abend brannten - trotz allem --- Höhenfeuer. Sie schienen, stiller und reiner als sonst in die verwirrte Welt hinauszuleuchten.
Was war geschehen? Am 28. Juni hatte in Serajewo, der Hauptstadt Bosniens, ein 18jähriger, serbischer Gymnasiast den österreichischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, mit seiner Gemahlin ermordet. Serben, zum Teil Beamte und sehr wahrscheinlich auch hohe Offiziere, hatten die Bluttat vorbereitet. Sie hielten Franz Ferdinand für einen Todfeind Serbiens und fürchteten, sobald er ans Regiment komme, werde er dieses Land überfallen. Die Schuldigen und ihre Gesinnungsfreunde wünschten : Serbien soll zu einem großen Slawenstaate werden (heute Jugoslawien); ihm sind unter anderem die südslawischen Gebiete Ungarns anzugliedern. - Wäre das aber geglückt, so hätten sich auch Tschechen und Magyaren von Österreich gelöst oder wenigstens zu lösen versucht, um selbständige Staaten zu bilden. (Heute Tschechoslowakei und Ungarn.) Das bedeutete den Zerfall Österreichs. Seine politischen Leiter suchten dieser Gefahr seit langem dadurch zu begegnen, daß sie Serbien verhinderten, sein Gebiet zu vergrößern. Die hohen österreichischen Militärs hatten zudem schon früher erklärt: Das einfachste ist, Serbien bei der nächsten Gelegenheit mit Krieg zu überziehen, ihm einen furchtbaren Schlag zu versetzen und sein gesamtes Kriegsmaterial wegzunehmen oder zu vernichten; dann werden wir auf Jahrzehnte hinaus Ruhe erhalten; denn eine solche Niederlage der Serben wird auch die österreichischen Slawen ernüchtern und erschrecken, so daß sie an keine Erhebung mehr denken. Schon zweimal, 1909 und 1912, war Österreich nahe daran gewesen, einen solchen Vernichtungskrieg gegen die Serben zu beginnen. Jetzt, im Sommer 1914, bei Anlaß des grausen Mordes, entschloß es sich endgültig dazu.
Allein dieser Entschluß war überaus gefährlich. Denn das slawische und griechisch-katholische Rußland betrachtete sich als Schutzmacht der stamm- und religionsverwandten Serben. Griff aber Rußland ein, so mußten sich die Deutschen wohl überlegen, ob sie Österreich helfen wollten oder nicht. Wenn nicht, so verloren sie ihren einzigen verläßlichen Bundesgenossen. Stand jedoch Deutschland gegen Rußland auf, so zog höchstwahrscheinlich dessen Verbündeter, Frankreich, gegen seinen östlichen Nachbarn ins Feld. Und was würde wohl England tun?
Klar war jedenfalls: Wenn sich Österreich und Serbien nicht verständigten, so mußte man erwarten, daß in ganz Europa, ja in der ganzen WeIt der Krieg ausbreche. Das fühlten die Diplomaten in den
politischen Amtsräumen der europäischen Hauptstädte. Sie ratschlagten darum in Sturm und Eile, faßten Entschlüsse, arbeiteten Botschaften und Erklärungen aus, entwerfen Antworten und Anfragen, sandten und erhielten Telegramme um Telegramme. Gewiß wünschten viele Einflußreiche, den Krieg zu vermeiden oder ihn doch auf wenige Staaten zu beschränken; aber sie zitterten zugleich vor der Möglichkeit, den günstigsten Augenblick zum Losschlagen zu verpassen, falls die Vermittlung nicht gelingen sollte.
Am 28. Juli erklärte Österreich an Serbien den Krieg. Darauf begann Rußland mit der Einberufung seiner Armee. Samstag, den 1. August, abends sieben Uhr, etwa zwei Stunden bevor bei uns die ersten Höhenfeuer aufloderten, übergab der deutsche Gesandte in Petersburg dem russischen Außenminister ein Schreiben, in dem die Worte standen: „Seine Majestät, der Kaiser, mein erhabener Herr, betrachtet sich als im Kriegszustaud mit Rußland befindlich“. Bis zum 4. August waren auch Frankreich, England und Belgien in den Krieg verwickelt, - alle auf der Seite Rußlands und Serbiens. Später schlossen sich diesem Bunde, der Entente, noch andere Staaten an, vor allem Japan, Italien, Rumänien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auf die Seite Deutschlands und Österreichs traten die Türkei und Bulgarien. Man nannte diese Gruppe den Vierbund oder die Mittelmächte.