I. Henri Dunant, der Begründer des Roten Kreuzes

Am 24. Juni 1859 kämpften Franzosen und Italiener bei Solferino gegen die Österreicher, um Italien von ihrer Herrschaft zu befreien und das Land zu einigen. Als die Sonne am folgenden Tag aufstieg, beleuchtete sie ein furchtbares Bild: Über 40 000 Tote und Verwundete lagen auf dem Schlachtfeld, die Toten oft mit unnatürlich weit aufgesperrten Augen, die Finger in die Erde gebohrt, die Zähne krampfhaft aufeinander gebissen. Verwundete und Fieberkranke wanden sich in entsetzlichen Qualen; sie waren seit dem Abend ohne Hilfe, mit glühendem Durste, liegen geblieben. Da und dort hatten sie aus schmutzigen Tümpeln mit Blut untermengtes Wasser geschlürft. Viele schrien laut in Nacht und Morgengrauen hinein und verlangten flehend nach Linderung ihrer Bedrängnis. Bei anbrechendem Tag erschien die Militärsanität und begann, die Verwundeten zu sammeln.

Allein sie besaß viel zu wenig Hilfskräfte, Verband- und Transportmaterial. Tausende mußten warten und warten, zum Teil drei bis vier Tage lang. In dieser Not griff der Genfer Henri Dunant ein.

Er war auf eigene Rechnung und Gefahr auf den oberitalienischen Kriegsschauplatz gereist, um den Leidenden zu helfen. Das Beispiel einer Frau, die in einem frühern Kriege für die Verwundeten Großes geleistet, hatte ihn zu seinem Unternehmen angeregt. Mit einem lombardischen Kutscher fuhr er mitten in das Schlachtfeld hinein. Als er all das furchtbare Elend sah, rief er die Bewohner der Umgebung zu Hilfe und leitete sie bei dem Werke an. Besonders die Frauen gingen ihm eifrig, aber oft ungeschickt an die Hand; denn sie waren im Krankendienst völlig ungeschult. Zuerst wollten sie nur Italienern und Franzosen Hilfe leisten; aber Dunant bemerkte, er mache keinen Unterschied zwischen den Angehörigen der verschiedenen Völker. Gleich stimmten die Bäuerinnen in echt italienischer Herzlichkeit zu: „Sono tutti fratelli - es sind alle Brüder“. Das blieb Dunants Losungswort.

Für viele Tausende kam die Hilfe zu spät. Wäre diese rechtzeitig erfolgt, so hätten sie gerettet werden können. So aber hatten sie sich verblutet oder waren in und nach der Schlacht am Wundfieber und an den Folgen der Erschöpfung gestorben.

Im Jahr 1862 gab Dunant ein Buch über seine Erinnerungen an Solferino heraus. Am Schlusse der Arbeit legte er dar: Man muß schon in Friedenszeiten in allen Staaten freiwillige Krankenpfleger-

vereine gründen, deren Mitglieder im Krankendienst einüben und Verbandzeug, Transportmaterial und Arzneien bereithalten. Später fügte er noch die Forderung hinzu: Die kriegführenden Staaten sollen Pfleger und Pflegerinnen samt den Feldlazaretten und Spitälern als neutral anerkennen. Im folgenden Jahre besprach die Gemeinnützige Gesellschaft von Genf diese Pläne und setzte zu ihrer Beratung eine Kommission ein aus Angehörigen verschiedener Staaten und Völker. General Dufour führte den Vorsitz. Dunant unterhandelte mit einflußreichen Staatsmännern. Er besuchte Napoleon III. und die Könige von Preußen und Sachsen und gewann sie für seine Gedanken. Es gab auch Widerstrebende. Der holländische Kriegsminister z. B. erklärte: Das ist ein unausführbarer Weltverbesserungsplan; er wird scheitern.

Auf die Einladung des schweizerischen Bundesrates trat im Sommer 1864 in Genf eine größere Konferenz zusammen; 16 Mächte hatten Vertreter gesandt. Am 22. August wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die Genfer Konvention. Nach und nach traten ihr über 30 Staaten bei. In all diesen bildeten sich nun solche Krankenpflegervereine. Nach ihrem gemeinsamen Abzeichen, dem Roten Kreuz im weißen Feld, nennt man sie Rotkreuzvereine. Neben den Verbänden der einzelnen Länder gibt es noch ein internationales Komitee. In den Kriegen seit 1864 haben die Rotkreuzvereine viel Arbeit geleistet. Ohne sie wären zum Beispiel im Deutsch-Französischen Kriege wahrscheinlich 30 000 Menschen mehr ums Leben gekommen. Im Weltkrieg sind die Vorschriften der Genfer Konvention nur zum Teil befolgt worden.