Lötschberg und Simplonbahn
Schon seit der Mitte des Jahrhunderts begann man im In- und Ausland von einer schweizerischen Alpenbahn zu sprechen. Viele Berner, ganz besonders die Jurassier, die damals noch keine Linien besaßen, wünschten, diese Bahn möchte von Luzern aus ins Oberhasli, von hier durch einen Tunnel ins Oberwallis und dann in einem neuen Durchstich entweder gegen das Tessintal oder direkt nach Italien geführt werden. Mit einer Grimselbahn, so erklärten ihre Befürworter, könnte man dem notleidenden Berner Jura aufhelfen: Man müßte durch diese Gegend nämlich eine Zufahrtslinie bauen. So würde der Jura, ja der ganze Kanton von einer wichtigen internationalen Linie auf einer Strecke von 50 Wegstunden durchzogen. Das wäre ein großer Vorteil.
Allein als man dieses Projekt im Großen Rat beriet, legten Jakob Stämpfli und andere Ratsmitglieder dar: „Die Stimmung in der Schweiz und im beteiligten Ausland ist überwiegend für den Gotthard. Es ist darum unmöglich, eine Grimselbahn zu bauen“. Der Gedanke an eine bernische Alpenbahn wurde aber doch nicht vergessen. So meinte ein Jurassier: „Eine solche Bahn wird sicher einst kommen; nur muß der Staat dann tiefer in den Sack langen, und die Dividenden werden dann auch weniger groß sein“.
Im Studierzimmer des Oberrichters Teuscher in Bern brannte das Licht fast regelmäßig bis in die späten Nachtstunden hinein. Der ehemalige Regierungsrat, ein gebürtiger Oberländer, saß dann gebückt über einem weitläufigen Kartenwerk der Berner Alpen. Auf Tisch und Büchergestell standen und lagen lange Reihen von Büchern und Broschüren: Gelehrte Werke, Gutachten, Berichte und Streitschriften über Anlage, Errichtung und Betrieb von Eisenbahnen, besonders in den Alpen. Gar manche Schrift handelte von der neu eröffneten Gotthardbahn. Teuscher beschäftigte sich mit dem Plane einer Linie Thun-Wallis. Einst hatte er an die Gemmi gedacht.
Im Sommer 1881 aber war er auf den Gedanken einer Lötschbergbahn gekommen. In den Ferien beging er von Thun an die ganze Strecke bis Visp. Er schaute sich hierbei in dem damals fast unbekannten Gastern- und Lötschental besonders gut um und fragte die Einheimischen überall nach Schneeverhältnissen, Lawinengefahr und Steinschlag. Zu Hause begann er anhand der besten Karten eine günstige Linie zu suchen. Es war oft sehr schwer, sich Rechenschaft zu geben über die Steigungen und die vermutlichen Kosten.
Mühsam arbeitete er Projekte aus, änderte sie ab, verwarf sie ganz, reiste an Ort und Stelle, zeichnete, schrieb, beging wiederholt das Trasse und machte sich zu Hause von neuem an die Arbeit. So acht Jahre lang. Dann, 1889, legte er seine Ergebnisse in einem Buche von beinahe 200 Seiten vor. Nach vier Jahren erklärte Teuscher in einer zweiten Schrift von 107 Seiten, was die Lötschbergbahn für eine Bedeutung hätte und auf was für einen Verkehr sie hoffen dürfte. Er schloß seine Arbeit aber immer noch nicht ab. In einer dritten Schrift (1898) schilderte er auf 174 Seiten sein „Neues verbessertes Projekt“. Später verfaßte er im Auftrag der Regierung noch ein Gutachten von 80 Seiten über die „Rentabilität der Lötschbergbahn“. Sehr deutlich erkannte man: Diese Linie hat nur dann Sinn, wenn die Bahn, die der Rhone entlang bis nach Brig führt, durch einen Simplontunnel vollendet wird. Im Jahre 1897 bewilligten darum Behörden und Volk des Kantons Bern einen Beitrag von einer Million Franken an den Simplondurchstich.
Darauf begann man dort mit den Bauarbeiten. Jetzt sprachen die Berner immer eifriger von einer Lötschbergbahn. Doch tauchten noch zwei neue Pläne auf: Großräte aus dem Amte Interlaken verteidigten eine Linie Lauterbrunnen-Visp mit einem zehn Kilometer langen Tunnel, der im Lötschental ausmünden sollte. Vertreter des Simmentals dagegen setzten sich für eine Wildstrubelbahn ein. Die Regierungsräte hörten diese Wünsche nicht gern. Einer erklärte:
„Wir müssen am großen Tag der Abstimmung einig sein. Es wird einen Feldzug geben, wenn es sich darum handelt, den Lötschberg bei dem Volke durchzubringen. Wir müssen dabei, wie ein Feldherr, den einmal gefaßten Plan beibehalten, gradausmarschieren und weder nach links noch nach rechts abbiegen“. Der Staat gewährte eine Summe von
180'000 Franken, um die Alpenbahnen zu studieren. Ingenieure, Geologen und andere gelehrte Männer untersuchten die Projekte. Schließlich wurden drei ausländische Sachverständige mit einer Überprüfung, einer „Oberexpertise“, beauftragt.
Diesen Männern, dem Leiter der belgischen Staatsbahnen in Brüssel, einem Ingenieur aus Paris und einem ehemaligen italienischen Minister, stellte man zum Beispiel die Fragen: Hat ein Durchstich der Berner Alpen Bedeutung genug, um die notwendigen Opfer zu rechtfertigen? Wie hoch werden ungefähr die Baukosten sein, und wie wird sich die neue Zufahrtslinie zum Simplontunnel rentieren? Der Bescheid lautete günstig. Im Jahre 1902 nahm der Große Rat mit 168 gegen zwei Stimmen ein Gesetz an, das bestimmte: Der Staat beteiligt sich am Bau einer künftigen Lötschbergbahn. Die Anhänger der verschiedenen Parteien waren einig. Das Volk stimmte dem Gesetz zu. Vielleicht freute sich niemand darüber mehr als Oberrichter Teuscher.
Im folgenden Jahre starb er. 1906 (bei Eröffnung des Simplontunnels) gewährte der Staat die versprochene Unterstützung, indem er beschloß, Aktien im Betrage von 17 1/2 Millionen Franken zu übernehmen. Eine Anzahl Mitglieder des Großen Rates war nicht mehr einverstanden. Besonders ungern sahen die Leiter der Bundesbahnen die Erstellung der neuen Linie. Sie erklärten: Es wird ihr kaum gelingen, sehr viel neuen Verkehr aus Nord- und Nordostfrankreich über die Schweiz zu leiten. Hingegen wird sie den Bundesbahnen, vor allem der Gotthardroute, starke Konkurrenz machen. Allein dieses Gutachten kühlte die Begeisterung für den Lötschberg nicht ab.
Es war ja auch möglich, daß die indirekten Wirkungen des Unternehmens (nämlich die Förderung bernischer Industrien und die Belebung des Fremdenverkehrs) dem Kanton Bern Nutzen brachten, auch wenn die Linie nicht besonders gut rentierte. Nachdem der Große Rat die 17 ½ Millionen gesprochen hatte, legten Gemeinden, Gesellschaften und Private die weiteren Summen zusammen.
Darauf bildete sich die Berner-Alpenbahn Gesellschaft Bern-Lötschberg-Simplon. Sie schloß mit französischen Unternehmern einen Bauvertrag. Mitte Oktober 1906 donnerten am nördlichen Eingangstor des Lötschbergtunnels die ersten Sprengschüsse. Und dann begann talein, talaus das grelle Pfeifen der Materialzugmaschine zu ertönen. Die Linie wurde für den elektrischen Betrieb eingerichtet, weil dieser größere Steigungen und rascheres Fahren ermöglicht. Auch ist wichtig, daß wir die elektrische Kraft selbst zu beschaffen vermögen und nicht auf die ausländischen Kohlen angewiesen sind. Im Jahre 1907 bewilligten die eidgenössischen Räte einen Beitrag von 6 Millionen Franken.
Sorgen blieben bei dem Unternehmen nicht aus. Im Februar 1903 kamen bei einem Lawinensturz bei Goppenstein 12 Menschen ums Leben, 15 wurden verwundet. Und im darauffolgenden Sommer brachen unter dem Gasterntal gewaltige Schuttmassen in den angefangenen Tunnel und töteten 24 Arbeiter, darunter 4 Familienväter. Oben auf dem Gasternboden bildete sich eine große trichterförmige Vertiefung. Witwen, Kinder und Geschwister der lebendig Begrabenen umstanden die Grube, schluchzten und rangen die Hände. Scharen von Arbeitern flohen und gelobten sich, nie wieder unter der Erde zu arbeiten. Selbst die eben angelangten Feriengäste trieb das unheimliche Ereignis von dannen. Während eines halben Jahres standen die Arbeiten an der Nordseite still. Was sollte man tun? Um jeden Preis weiter gradaus durch den Gasternschutt vordringen? Eine Umgehung versuchen und die Kosten um ein paar Millionen steigern? Es fragte sich, ob bei einer solchen Kurve die Tunnelachse zu finden sei. und ob die Arbeiter vom Süden und vom Norden her sich unfehlbar treffen würden. Professor Bäschlin bejahte diese Frage. Darauf wurden die Arbeiten wieder aufgenommen.
Bedenklich war, daß der Bau weit mehr kostete, als man ursprünglich berechnet hatte: Statt 89 rund 130 Millionen. Für einen Teil der Bausumme mußte der Kanton Bern garantieren, daß die Zinse bezahlt würden. Im März 1911 erfolgte der Durchschlag des Tunnels. Die Berechnungen über die Richtung seiner Achse stimmten genauer, als man erwartet hatte, trotz des Gasternunglückes. Die Abweichung betrug nur 25 cm. In der Länge hatte man sich um 41 cm geirrt. Im Sommer 1913 wurde die Linie bis Brig eröffnet. Um die Zufahrt zu verbessern, baute man noch die Bahn Münster-Grenchen. 1915 war sie beendigt.
Die Lötschberglinie ist ein gewaltiges Werk und die Fahrt auf ihren Bergstrecken von großartiger Schönheit. Trotz aller Schwierigkeiten sind die bernischen Behörden und das bernische Volk stolz auf das, was sie hier zustande gebracht haben. Sie empfinden vielleicht etwas Ähnliches wie einst die Bürger der mittelalterlichen Städte, wenn sie an ihre schönen Zunft- und Ratshäuser oder gar an ihre Münster und Dome dachten.