Jurabahnen

Der Jura besaß noch keine Bahnen. Er litt darunter. Im Jahre 1866 schilderten der Seeländer Jakob Stämpfli und einige Jurassier die Not dieser Landschaft im Großen Rat. Vor dem Bau der Eisenbahnen in der Schweiz hatte die jurassische Bevölkerung am Durchgangsverkehr jährlich etwa 100 000 Franken verdient. Seit der Eröffnung der Linie Bern-Olten-Basel und anderer Strecken im schweizerischen Mittelland und im Neuenburger Jura blieb dieser Verkehr plötzlich aus. Es wurde still auf den alten, großen Straßen. Die Gasthäuser füllten sich nicht mehr; Krämer und Handwerker erhielten weit weniger Zuspruch. Bahnen reißen eben in weitem Umkreis Arbeit, Personen- und Güterverkehr an sich. Auf der Strecke Bern-Thun zum Beispiel beförderte die Postkutsche im Jahre vor der Eröffnung der Bahn 34 000 Personen. Fünf Jahre später dagegen zählte man hier 220 000 Reisende.

Im bernischen Jura nahmen nicht nur Handwerk, Gasthaus- und Transportgewerbe Schaden, sondern auch Pferdezucht und Uhren-, Eisen- und Glasindustrie. Sie konnten mit Gegenden, durch die Eisenbahnen zogen, nicht mehr konkurrieren: Die Pferdehändler und die fremden Käufer von Uhren scheuten, ganz besonders im Winter, die beschwerliche und teure Postkutschenreise an die entlegenen Orte. Dazu brachten keine Bahnen den Arbeitern billige Lebensmittel. In Besançon, Genf, La Chaux-de-Fonds und Le Locle war das der Fall. Eisen- und Glasindustrie litten unter anderem deshalb, weil man noch, wie einst, teure Holzkohle gebrauchte und gebrauchen mußte. Das Ausland dagegen verwandte billige Steinkohle und hatte für die Versendung der Waren in die Schweiz nur kleine Beträge auszulegen. Für den Transport eines Zentners Eisen von England bis Basel zahlte man zwei Franken, genau gleichviel wie für einen Zentner von Delsberg nach La Chaux-de-Fonds. (Delsberger-Eisen mußte man mit Fuhrwerk nach Basel bringen und konnte es erst von hier aus auf einem großen Umweg mit der Bahn weiterspedieren.)

So wurden seit dem Aufkommen der Bahnen Arbeit und Verdienst ganzer Landschaften, die bei ihren bisherigen Straßen und Wegen blieben, völlig anders. Wollten solche Gegenden nicht dauernd in schwere Bedrängnis geraten, so mußten sie ihr Insel dasein aufgeben und sich an die neuen Verhältnisse anpassen, das heißt ebenfalls Eisenbahnen errichten. Der Jura vermochte aber nicht, dies aus eigener Kraft zu tun. Die bernischen Staatsmänner erkannten das und fühlten sich verpflichtet, ihm zu helfen. Außerdem dachten sie auch an die politischen Verhältnisse. Der Jura war erst 1815 an Bern gekommen. Zwischen dem alten und dem neuen Kantonsteil bestand eine innere Spannung: Sie waren verschieden in Sprache und Religion. Auch hatte der Jura seine eigenen Gesetze und sein besonderes Steuerwesen behalten. Der alte Kantonsteil hätte hierin Einheit gewünscht. Gar leicht fühlte sich der neue aber benachteiligt. Durch die Hilfe im Eisenbahnwesen hoffte man, eine Aussöhnung herbeizuführen.

Anfangs 1867 genehmigte der Große Rat einen Erlaß, nach welchem eine Reihe von Linien im Jura durch Private, aber mit einer Staatshilfe von sieben Millionen Franken gebaut werden sollten. Den Rest der Bausumme brachten jurassische Gemeinden zusammen. Unternehmungsfreudige Männer gründeten ein Komitee und dann eine Gesellschaft, die Jurabahn-Gesellschaft.

Wichtig für die Anlage und Entwicklung des geplanten Bahnnetzes wurde der Deutsch-Französische Krieg von 1870/1871.  Da Frankreich das Elsaß verlor, mußte die französische Ostbahn eine neue Verbindung mit Basel und der Schweiz suchen. Der bernische Eisenbahndirektor und die Leiter der Jurabahnen begannen sofort mit der französischen Gesellschaft zu unterhandeln, um den Verkehr aus Frankreich durch den Berner Jura zu leiten.

Basel und die Zentralbahn wollten dies aber verhindern. Ein Vertreter der Zentralbahn reiste nach Paris und schlug vor, die sogenannte Lützeltallinie zu errichten. Dadurch wäre der größte Teil des Berner Juras abgefahren worden. Basel und die Zentralbahn hätten dabei aber gute Geschäfte gemacht. Beide Parteien kämpften leidenschaftlich um die Verwirklichung ihrer Pläne.

Zwischen den Behörden in Basel und Bern flog manch scharfes Wort und manches scharfe Schreiben hin und her. Wer würde siegen? Die französische Ostbahn entschied sich schließlich für die Vorschläge der Berner. Sie mögen aufgeatmet haben. Schleunig erstellten sie eine Verbindung zwischen Pruntrut, St. Ursanne und Basel. Damit hatten die Jurabahnen eine internationale Bedeutung erlangt. So beschloß der Große Rat, sie zu erweitern und neue bedeutende Beiträge an den Ausbau zu leisten. 1877 war das gesamte Netz vollendet: Von Biel das ganze St.Immertal hinauf. von Sonceboz bis Basel, von Delsberg über Pruntrut nach Delle an der Grenze.

Die Bahnen gediehen. Sie verbesserten die wirtschaftlichen Verhältnisse der Landschaft und trugen bei zur inneren Verständigung mit dem alten Kantonsteil. Die Jurassier erkannten, daß Bern doch Wichtiges für sie leistete. In jenen Jahren trat der Staat seine Linien Neuenstadt-Biel-Bern an die Jurabahn-Gesellschaft ab, und die Strecke Bern-Luzern gab er in Pacht.

Der Abschnitt Langnau-Luzern, eine Zufahrtslinie zur künftigen Gotthardbahn, war 1875 eröffnet worden. Die Gesellschaft, welche diese Linie errichtet hatte, geriet gleich wie einst die Ost- Westhahngesellschaft in Konkurs. Der Staat hatte sich wieder mit Geld beteiligen müssen. So entstand auch diesmal Unzufriedenheit.

Die Wände des Rathauses in Bern erzitterten neuerdings. Der Kanton sandte eine Kommission von fünf Vertretern an die Steigerung und liess die Bahn für sich erwerben.