Wie Louis Philipp Frankreich regiert hat und wie sein Königsthron zum Fenster hinaus geworfen wird

Was die Fürsten und die konservativen Volksgruppen gefürchtet und die Liberalen erhofft hatten, geschah: In vielen Städten und Staaten Europas brachen Revolutionen aus, zuerst in Paris.

Seit der Julirevolution von 1830 war Louis Philipp König von Frankreich. Unter seinem Regiment galt folgendes Gesetz: Nur wer 200 Franken direkte Steuern bezahlt, kann bei der Wahl der französischen Abgeordneten (in der Schweiz Nationalräte) mitwirken, und nur wer 500 Franken bezahlt, darf gewählt werden. Das waren für die damalige Zeit sehr hohe Summen; nur die Allerreichsten bezahlten solche Steuerbeträge. So konnten von einer Bevölkerung von ungefähr 33 Millionen nur 240 000 Bürger an den Wahlen teilnehmen.

Das heißt: In Frankreich hatten allein die Wohlhabenden zur Politik etwas zu sagen, vor allem große Fabrikanten und Handelsherren. Sie spielten jetzt die Rolle, die einst Adel und Geistlichkeit inne hatten. Der Reichtum dieser Besitzenden mehrte sich beständig und damit auch ihre Gewalt. „Es ist alles still wie in einer verschneiten Winternacht. Ein leises Geräusch nur unterbricht die Ruhe. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabträufeln in die Kapitalien; man hört ordentlich, wie sie wachsen, die Reichtümer der Reichen“. So schildert der deutsche Dichter Heinrich Heine, der damals in Paris lebte, die Verhältnisse.

Über diese Zustände ergrimmten vor allem die notleidenden Arbeiter. Auch in Frankreich nahm ihre Zahl stetig zu; denn der Fabrikbetrieb breitete sich aus. Das erkennt man schon daran, daß von 1831 bis 1847 in Frankreich der Verbrauch an Steinkohle von zwei Millionen Tonnen auf siebeneinhalb Millionen stieg; im gleichen Zeitraum mehrte sich die Zahl der Dampfmaschinen von 610 auf 4850. Die Arbeitermassen lebten, wie in England, in ungesunden Keller- und Dachwohnungen zusammengepfercht. Sie fühlten sich im Vergleich zu andern Klassen sehr benachteiligt. In Lyon, der zweiten Stadt des Landes, machten die Seidenarbeiter zwei Aufstände (1831 und 1834). Anlaß zu den Unruhen gab beide Male Herabsetzung der Löhne.

In ihrem Mißmut dachten die Arbeiter zurück an die große Französische Revolution, lasen in den Freistunden die Reden Robespierres und sangen auf den Arbeitsplätzen aufrührerische und trotzige Lieder. Unzufrieden mit den bestehenden Verhältnissen war weiter die Partei der Republikaner. Diese zwei Gruppen, Arbeiter und Republikaner, schlossen sich zusammen und verfochten ihre Ziele in einer gemeinsam herausgegebenen Zeitung. Da konnte man zum Beispiel lesen: „Die Arbeiter waren früher Sklaven und sind jetzt Lohnangestellte; man muß sie zum Rang von Teilhabern erheben. Der arbeitsfähige Bürger hat ein Recht auf Arbeit“. Die Arbeiter hofften, die Republik werde eine neue Güterverteilung einführen. Die Republikaner dagegen erstrebten nur eine politische Neuordnung.

Beide Gruppen aber dachten: Wenn es in Frankreich besser werden soll, müssen zuerst die Wahlgesetze abgeändert werden. Deshalb beschlossen sie, der Regierung ein entsprechendes Gesuch mit Tausenden von Unterschriften einzureichen. Um ihre Gedanken zu verbreiten und die Unterschriften zu sammeln, veranstalteten sie große Essen, Bankette. Bei diesen Essen traten jeweilen politische Redner auf und sprachen über die notwendigen Neuerungen. Da begann die Regierung, diese Bankette zu verbieten, so z. B. eines, das Dienstag, den 22. Februar 1848, an der Stadtgrenze von Paris abgehalten werden sollte.

Dieses Verbot reizte die Bevölkerung. Am Dienstagvormittag zogen Geschäftsleute, Arbeiter, Studenten und Scharen von Neugierigen durch die Straßen und Plätze der Stadt und versuchten, in ein Regierungsgebäude einzudringen, wurden aber von Dragonern zurückgetrieben. Ein anderer Schwarm sammelte sich vor dem Bureau eines verhaßten Ministers, warf die Scheiben ein und wollte das Tor aufbrechen. Mit diesen und andern ähnlichen Ereignissen begann die Februarrevolution. Wie 1330 kam es zu Barrikadenhau und Straßenkämpfen.

Als der Aufstand immer gefährlicher wurde, ließ der König sich dazu verstehen, Männer als Minister zu berufen, welche die Wahlgesetze abändern wollten. Allein es war zu spät. Umsonst eilten die neuen Minister unter die aufständischen Massen, um sie zu beschwichtigen. Diese hörten kaum hin, sondern schwangen da und dort rote Fahnen und riefen: „Nieder mit Louis Philipp !“ Der Ruf „Abdankung !“ flog von Barrikade zu Barrikade und pflanzte sich fort bis in die königlichen Gemächer hinein. Louis Philipp erkannte, daß ihm kein anderer Ausweg blieb. Er trat Donnerstag, den 24. Februar, zurück zugunsten seines Enkels und wollte abreisen. Allein die Abreise wurde zur Flucht. Kaum hatte er in schwarzem Frack und Zylinder durch den Tuileriengarten das Schloß verlassen, so drangen Volksmassen hinein, unter ihnen auch drei junge Schweizermaler und ein schweizerischer Uhrenmacher, damals Angestellter eines Geschäftes in Paris. Sie erzählen:

« Auf dem Vorplatz sahen wir keine Regierungstruppen mehr, sondern nur tote Pferde, Tschakos und einen gewaltigen Rauch. Das Volk zündete die dortigen Wachthäuschen an und stürmte in die Tuilerien hinein; wir nach, besonders aus Neugierde, die königlichen Zimmer und all die Pracht zu sehen. Zuerst gelangten wir in die königliche Küche. Hier bot sich ein seltsames Schauspiel. Schon beim Eingang und auf den Treppen kamen uns Blusenmänner entgegen, die Schinken, Braten, ganze Rehe, Geflügel, Würste auf ihre Bajonette und Spieße aufgesteckt hatten. Für solche Herrlichkeiten waren wir schon etwas zu spät eingetroffen. Uns blieb nichts übrig als Gemüse, noch in den Kesseln über dem Feuer, also noch ganz warm. Die Blusenmänner hatten sich recht gemütlich um die Schüsseln gelagert und fischten Rüben, Kartoffeln usw. mit ihren Säbeln heraus. Wir gerieten in eine dunkle Speisekammer und eroberten nach langem Suchen in der Dunkelheit ein mächtiges Stück Käse. Sofort zerteilt und in die Tasche damit! Dann stiegen wir die Treppe hinauf. Eine große, gedeckte Bahre wurde soeben von vier Männern heruntergetragen. Erweist den Verwundeten die Ehre! hieß es, und alles entblößte das Haupt. Es waren aber, wie wir später erfuhren, nicht Verwundete, die hier in Sicherheit gebracht wurden, sondern Kleinodien. Nun ging‘s in die königlichen Gemächer, in die Salons und in den Thronsaal. Das Volk empfand das größte Vergnügen daran, sich auf die prachtvollen Sessel und Divans zu setzen. In den Schlaf- und Toilettenzimmern standen einige, die an den vielen Pomadentöpfchen und Fläschchen rochen. Einer versuchte sogar, den Inhalt eines solchen zu trinken, spuckte ihn aber unter Grimassen wieder aus. Andere legten sich in Louis Philipps Bett. Dritte setzten sich ruhig hin und blätterten in den Büchern; andere wieder besahen die Kupferstiche und Gemälde an den Wänden. Schon war allenthalben angeschlagen: Schonet die Kunstwerke! Die Bilder des Königs und seiner Familie wurden zerschossen und zerschlagen, die vorgefundenen Briefe gelesen und auf die Straße hinuntergeworfen. Häufig wurde in die Spiegel und Kronleuchter gefeuert, so daß der Aufenthalt in diesen Zimmern recht gefährlich war.

Im Thronsaal herrschte ein fürchterliches Gewühl, weil jeder der Anwesenden einen Fetzen Samt oder Scharlach vom Thron herunterreißen und als Andenken mitnehmen wollte. Volksmänner waren daran, ihn mit Gewalt von der Wand abzutrennen. Ein schönes Schauspiel zeigte sich drunten im Schloßhof. Alle königlichen Wagen wurden brennend herumgefahren. Wir konnten nicht wieder ins Freie gelangen, ohne an einer Wache vorbeizukommen, die jeden Heraustretenden untersuchte. Wer irgendwelchen Raub von Wert bei sich trug, wurde sofort niedergeschossen. Natürlich ließ man uns Eidgenossen mit unsern Käseschnitten unbehelligt ziehen.

Unterdessen war der Thron von der Wand des Thronsaales abgetrennt und aus dem Fenster geworfen worden. Volksmänner hoben ihn auf die Schulter und trugen ihn, begleitet von einer großen Menschenschar unter Absingen der Marseillaise, nach dem Bastilleplatz. Dort wurde er verbrannt.»

Die führenden Politiker riefen die Republik aus und setzten eine vorläufige Regierung ein, die am andern Tag erklärte: Die Regierung verpflichtet sich den Lebensunterhalt der Arbeiter dadurch zu sichern, daß sie allen Bürgern Arbeit verschafft. Ob nun wohl eine ganz neue, den Arbeitern günstige Staatsordnung entstand?