6. Der Kampf um neue Volksrechte wird fortgesetzt
Nach den politischen Kämpfen von 1830 und 1831 mußten in den liberal gewordenen Kantonen viele neue Gesetze erlassen werden. Vor allem wurde das Schulwesen verbessert; man erkannte: Ohne Volksbildung brächte Volksherrschaft nur Unheil. So entstanden nun Lehrer Seminare und in Bern und Zürich auch Hochschulen.
Nach einiger Zeit arbeiteten etliche Kantone ihre Verfassungen von neuem um. Die indirekten Wahlen wurden beseitigt und die Mitglieder der Großen Räte genau nach Kopfzahl gewählt. So verloren die Städte ihre Vorzugsstellung ganz. (ln Bern 1846.) Die Amtszeitenwurden noch kürzer; die Großen Räte erhielten mehr und die Regierungsräte weniger Befugnisse.
Ungefähr 40 Jahre nach der Regeneration wollte sich in einer Reihe von Kantonen die Mehrheit des Volkes mit den Rechten, die es 1830 und seither erhalten hatte, nicht mehr begnügen. Es hieß jetzt: Wenn die Großen Räte einmal gewählt sind, beschließen sie, was sie wollen; das Volk hat nichts mehr dazu zu sagen. Ja, in einem Kanton, in Zürich, hatte ein großer Teil der Bürger das Gefühl: Wir werden von einem einzigen Manne regiert, dem „Eisenbahnkönig“ Alfred Escher. In seiner hohen Stellung und mit seinen vielen Anhängern übte er wirklich einen gewaltigen Einfluß aus. Er war Großratsmitglied und eine Zeitlang Präsident des Regierungsrates. Was er riet, das wurde beschlossen; wen er für ein Amt empfahl, der wurde gewählt; wen er bekämpfte, darniedergehalten. Einen Vertrag, den der Kanton Zürich mit Alfred Eschers Eisenbahngesellschaft abschloß, unterzeichnete Escher zweimal, zuerst im Namen des Kantons (als Regierungspräsident) und dann im Namen der Gesellschaft. Das zeigt deutlich, daß die Männer, die das Wirtschaftsleben beherrschten, zugleich auch den Staat regierten. Doch hat Escher nichts Unehrenhaftes unternommen; er ist auch nicht etwa ein träger Schmarotzer gewesen, sondern hat unglaublich hart und streng gearbeitetund dadurch seine Gesundheit ruiniert. Er übte eine große Wohltätigkeit aus, aber glaubte nicht, daß man das Los der Arbeiterschaft durch Gesetze erleichtern könne.
Es kam den Gegnern „König Alfreds“ nicht darauf an, ob er ein wenig besser oder ein wenig schlechter regiere. Sie wollten überhaupt keinen „König“ und forderten darum: Das Volk muß größeren Einfluß im Staate bekommen. Die Großen Räte sollen die Gesetze nicht endgültig beschließen; das Volk muß über sie abstimmen können (Referendum) ; ja, es muß auch das Recht erhalten, Gesetze oder Verfassungsartikel selber vorzuschlagen (Gesetzes- und Verfassungsinitiative), und endlich: Fortan dürfen die Mitglieder der Regierung nicht mehr durch die Großen Räte gewählt werden; das Volk soll das selbst tun.
Wie zur Zeit der Regeneration, so kam es auch jetzt zu großen Volksversammlungen, zur Wahl von Verfassungsräten, zur Ausarbeitung von neuen Verfassungen und zur Abstimmung über sie. In denKantonen Zürich und Thurgau wurden die neuen Verfassungen mit den genannten Volksrechten 1869 angenommen. Nach und nach änderten auch andere Kantone ihre Grundgesetze. Bern führte nochim Jahr der Zürcher Umwälzuııg das Referendum und später auch die Initiative (1893) und die Wahl der Regierung durch das Volk ein (1906).