4. Das Zürchervolk erhält eine neue Verfassung
„Die Franzosen haben nach eigenem Gutdünken und Belieben einen neuen König gekrönt“. Diese Botschaft erregte die Gemüter der freisinnigen Schweizer. Überall, auf Straßen und Märkten, in Gasthöfen und Bädern, besprachen sie das Ereignis. Sie waren überzeugt: Das ist ein Zeichen dafür, daß die Zeit der Volksherrschaft angebrochen ist; nicht mehr Herrenwille, sondern Volkswille gilt. In einem Kanton nach dem andern begannen liberale Männer dafür zu arbeiten, daß eine neue Staatsordnung eingeführt werde.
Den ersten Schritt in Zürich taten Bewohner von Küßnacht. Der Arzt dieses Ortes hatte in Zürich Dr. Ludwig Snell aus Nassau kennen gelernt, einen eifrigen Anhänger der neuen Gedanken, der sich seit 1827 auf Schweizerboden aufhielt. Der Küßnachter Arzt hat nun im Herbst 1830 diesen Snell dringend, die politischen Wünsche der Leute am See in einer Schrift zusammenzufassen. Nach kurzer Bedenkzeit erfüllte Snell den Wunsch. So entstand eine Denkschrift, die man das Küßnachter Memorial nennt. Sie wurde bald gedruckt. Die einflußreichsten Großräte und Regierungsherren wollten von einer Änderung der Verfassung und den Küßnachter Wünschen aber nichts wissen. So kamen neugesinnte Männer aus den verschiedensten Teilen des Kantons wiederholt in Meilen und Stäfa zusammen, besprachen die Denkschrift und beschlossen an einem Freitag in später Nachtstunde, auf den folgenden Montag (den 22. November) eine große Volksversammlung nach Uster einzuberufen. Reiter und Schnelläufer verbreiteten Samstag und Sonntag rasch gedruckte Einladungen in allen Gegenden des Kantons. Die meisten Landbewohner waren sogleich bereit; eine Minderheit fürchtete, es könnte zu einer Revolution kommen und daraus Ungutes entstehen. Als der junge Müller Heinrich Gujer von Bauma nach Uster aufbrach, rief ihm sein Vater warnend nach: „Heiri, wenn”s fehlt, chönnt's dir de Chopf choste l“ „Der kluge Müller“, wie ihn das Volk nannte, wußte auch, daß es gefährlich werden konnte. Er hatte darum für einen Paß gesorgt und trug ihn auf sich, um im schlimmsten Fall ins Ausland zu entkommen.
Am Montag rückten Massen Volkes in Uster ein, zu Fuß, zu Pferd, zu Wagen. Die Versammlung konnte nicht, wie geplant war, in der Kirche abgehalten werden. Die 8000 bis
10 000 Mann mußten sich unter freiem Himmel versammeln um eine Rednerbühne, die auf einer kleinen Anhöhe aufgeschlagen wurde. Jüngere Teilnehmer kletterten auf nahestehende Bäume und horchten und schauten von den Ästen herunter.
Die meisten wußten nicht, wer reden werde und was geschehen sollte. Jetzt nahten fünf Männer, unter ihnen jener Müller, und bestiegen die Bühne. Es wurde ganz still. Gujer eröffnete die Versammlung und erklärte ihr, was für Neuerungen in der Verfassung notwendig seien. Über die Regierung schimpfte er nicht, sondern sprach mild und respektvoll von ihr. Die Versammelten hörten, den Hut in der Hand, dem Redner andächtig zu. Nach dem Müller sprach ein Arzt, ebenfalls würdig und besonnen. Ein dritter Redner aber ließ sich zu allerlei unüberlegten Versprechungen hinreißen: Verminderung von Steuern und Abgaben. Zu jedem Begehren, das die Volksmenge stellte, meinte er: „Au da mueß ghulfe si“! Dann fragte er sie, ob sie noch mehr wünschten. Die Kollegen zupften ihn am Rockflügel, zuerst leise, dann stärker. Schließlich brachten sie ihn zum Schweigen. Eine Bittschrift, die ungefähr die Forderungen des Memorials von Küßnacht enthielt, wurde von Tausenden unterschrieben. Dann kehrten die Teilnehmer, Freiheitslieder singend, nach Hause.
Am Mittwoch überbrachten neun Männer dem Bürgermeister jene Bittschrift, die nach Schluß der Versammlung noch etwas erweitert worden war und Uster Memorial genannt wurde. Schon am Donnerstag trat der Große Rat zusammen und beriet, was zu tun sei. Nachdem ungefähr 80 Redner gesprochen hatten, wurde beschlossen, die politischen Wünsche der Eingabe im großen Ganzen zu erfüllen. Ein vom Volk gewählter Rat entwarf eine neue Verfassung, die im März des folgenden Jahres mit großer Mehrheit angenommen wurde.