Aus Appenzeller Briefen
« Heiden, den 21. Oktober 1930.
Ich bin nun 60 Jahre alt und habe 44 Jahre gestickt. Wir hatten von vier Kindern drei erzogen, und es ging trotz meinem zehnjährigen Magenleiden immer ganz ordentlich. Aber seit Ausbruch der Krise haben wir schwer zu kämpfen. In den teuersten Jahren wurden alle drei Kinder konfirmiert, was viel kostete. Dann starb eine 23jährige Tochter nach halbjähriger Krankheit, was auch wieder viel Kosten verursachte.
Da wir in der Stickerei jeden Sommer Krise hatten, haben wir alles mit Notstandsarbeiten durchgekämpft. Nun aber gab es manches Jahr keine Notstandsarbeiten mehr. 60 Tage aus der Krisenkasse 2.50 Franken bis 3.50 auf den Tag, das war die ganze Jahreseinnahme. Und nun kam das Jahr 1930, das allerschlimmste, was die Stickerei anbelangt; zu anderer Arbeit bin ich überall zu alt, so daß ich einfach in Schulden geraten muß. Aushilfsweise habe ich angefangen, mit Fleisch zu hausieren, aber bis jetzt dabei kaum die Schuhe verdient.»
Der Präsident eines Webervereins schreibt am 2. Juni 1931:
« Am schlimmsten ist es mit den Heimarbeitern bestellt; sie genießen gar keinen gesetzlichen Schutz. - Gestern war ein 60jähriger Weber bei mir. Er ist fünf Vierteljahre arbeitslos und jetzt wieder unterstützungsberechtigt zu zwei Franken im Tag. Ich verabreichte ihm zehn Franken aus der Hilfskasse, die wir gegründet haben, um ausgesteuerten oder besonders bedrängten Webern zu helfen. Wenn ich solchen Leuten einen Betrag von zehn Franken überreiche, so nehmen sie ihn öfters mit Tränen in den Augen entgegen. Etliche hätten es schöner im Armenhaus; aber sie wollen die Selbständigkeit nicht aufgeben.»
J. K.: «Letzten Freitag hat mir ein Freund im Vertrauen erzählt, sein Nachbar, ein 85jähriger Mann, der sein Leben lang sich selbst durchbrachte, weigere sich, von der Bürgergemeinde Unterstützung zu beziehen. Ist es nicht ein Zeichen von Tapferkeit und edler Gesinnung?
Dabei besitze der Mann nur noch einen sehr zusammengeflickten Bettanzug und kein richtiges Leintuch mehr. Die Mitbewohnerin des Hauses muß immer einen schönen Tag zum Waschen aussuchen, um am Abend mit dem Gewaschenen das Bett wieder anziehen zu können. Wir erlauben uns, diesen Fall auch auf die Liste zu nehmen, obwohl der Greis nicht mehr Mitglied der Kasse ist.»