Europäisch-amerikanische Industrie in China
Aus Colin Ruß, „Das Meer der Entscheidungen“ ; F. A. Brockhaus, Leipzig:«Das alte China ist immer noch da. So stehe ich an der Reling, schaue Nanking entgegen und habe im Kopf ein Bild, das sich der Knabe aus einem alten Reisebuch einprägte: eine porzellanene Stadtmit geschweiften Dächern und Pagoden, an denen Glöckchen klingen.Aber was jetzt am Ufer hintereinander aufsteigt, sind fünfstöckige Warenspeicher, Kamine, Fabriken, Gefrieranstalten. Es ist die moderne Fassade, hinter der sich das alte China verbirgt.
Das alte China ist immer noch da. Es gleitet in Städten vorüber, die gleich Traumbildern unsere Augen treffen. Unübersehbare Gewirre von Dächern scharen sich um Pagoden, die gleich Riesenfingernin den Himmel stechen. Aber auch hier in Nanking und Wuhu drängen sich Scharen kleinerer Finger, Dutzende von Kaminen rings um die dicken Mauern, die um die Städte gezogen scheinen, damit dieÜberfälle ihrer Bewohner sie nicht zum Bersten bringe. Die Essen und Schlote aber scheinen eine Schrift an den blassen Himmel zu schreiben, deutlich mit dicken Buchstaben: Wir sind die neue Zeit,wir bedeuten Modernisierung und Europa. Und die Pagoden sind alt und verfallen. Ihre kostbaren Porzellandächer bröckeln ab. Auf manchen wuchert Moos und Gras. Die Kamine aber sind neu und jung, sie senden anmaßende Rauchfahnen gen Himmel.»
« Wir passieren die Eisenwerke von Wongschihkong, und der deutsche Großindustrielle, der mit uns reist, macht ein sorgenvolles Gesicht. Die Hochöfen sind wie Burgen am Ufer gebaut, Drahtseilbahnen bringen die Erze aus den unmittelbar dahinter liegenden Gruben, die in billigem Tagebau abgebaut werden. Ein idealer Standort, über den kaum eine andere Eisenindustrie der Welt verfügt: Erzgruben unmittelbar an der Welthandelsstraße, Kohle nicht weit, und Löhne, die noch nicht den zehnten Teil der europäischen und amerikanischen betragen.
Der weißköpfige Generaldirektor steht, beide Hände auf die Reling gestützt. Man liest auf seiner Stirne deutlich, was sich dahinter abspielt: Wir importieren von hier Erze - auch unsere „Saarland“nimmt in Hankau ein paar tausend Tonnen ein - verschiffen sie um die halbe Erde, um sie bei uns zu verhütten und in Form von Schienen und Schwellen wieder hierherzubringen. Ist es ein Wunder, wenn die Chinesen sich sagen, das können wir billiger selber machen! Wie lange wird es noch dauern? Eine Zeitlang werden wir in Spezialstahlen und Maschinen noch eine Einfuhrmöglichkeit haben, aber dann?
Der Großindustrielle geht beunruhigt in den Rauchsalon, kommt wieder an die Reling und erschrickt neu vor Zementfabriken, die auf die Hochöfen folgen, und Spinnereien, die sich an die Zementfabriken reihen.»
«Die überwiegende Mehrheit der industriellen Betriebe in China befindet sich heute bereits in chinesischen Händen. Das Beispiel der Baumwolle sollte den europäischen Importeuren die Augen öffnen. Wie lange ist es her, daß China überhaupt noch keine Baumwolle kannte! Aber auf die Zeit der Einfuhr von Baumwollstoffen folgte die der Einfuhr von Spinnstühlen und Webmaschinen, und heute folgt China nach den Vereinigten Staaten und Indien als drittgrößter Baumwollproduzent. Es wird nicht allzu lange dauern, bis die chinesische Textilindustrie der europäischen und amerikanischen auf ihrem eigensten Absatzgebiet Konkurrenz machen wird.»
In einem andern Zusammenhang schildert der Verfasser die verblüffende Anstelligkeit und Genügsamkeit des chinesischen Kärrners und bemerkt dann:
«So ist das ganze Volk, der Bauer, der Industriearbeiter, das Mädchen aus der Fabrik, die Heimarbeiterin: unglaublich fleißig, unglaublich geschickt, unglaublich bedürfnislos, und dabei für einen Lohn arbeitend, der für deutsche Begriffe ein Hohn und eine Lächerlichkeit ist. In modernen Fabriken fängt die ungelernte Fabrikarbeiterin mit 20 Pfennig den Tag an, in chinesischen Betrieben im Innern erhält sie Pfennige und Bruchteile von Pfennigen für sechzehnstündige Arbeit.
Man fragt sich erschrocken, was soll aus Europa werden, wenn dieses Volk, das noch dazu über die reichsten Rohstofflager der Erde verfügt, einmal anfängt, sich in großem Maßstab zu industrialisieren und für die Ausfuhr zu arbeiten. Dann ist die Industrie Europas, Japans und der Vereinigten Staaten erledigt.»