Kolonisation und Auswanderung wirken auf Europa zurück

Die europäischen Staaten bevormundeten ihre Kolonien ähnlich wie einst die Städte die Landschaften. Kolonisten und Eingeborne durften nur solche Güter erzeugen, die das Mutterland nicht selbst herstellen konnte. Sie durften weiter nur vom Mutterstaat kaufen und nur an ihn verkaufen. Das Mutterland schloß mit großen Kaufmannsgesellschaften Verträge. Nach Entrichtung einer bedeutenden Entschädigung an den Staat erhielten sie das alleinige Recht, mit dem Kolonialland Handel zu treiben. In manchen Staaten, z. B. in Holland und England, erlangten diese Handelsgesellschaften auch die Bewilligung, im Kolonialgebiet Burgen zu bauen, Steuern zu erheben,Bündnisse zu schließen und Kriege zu führen. Weil die Konkurrenz fehlte oder sich wenigstens nur als Sclmuggel geltend machte, konnten die Gesellschaften die Preise nach ihrem Belieben festsetzen. Sobezog Europa (insbesondere Westeuropa) aus Amerika, Afrika und Asien gewaltige Gütermengen gegen bloße Trinkgelder. Ja, in den Anfangszeiten drängten die Portugiesen den Indern Waren auf, ohne sie zu fragen, was sie wünschten oder nötig hätten. Für ein Paar alte Stiefel mußten die Eingebornen 300, für einen spanischen Mantel 1000, für einen Becher Wein 200 Dukaten bezahlen. Es war nichts anderes als verschleierter Raub. Die Gewinne der Handelsgesellschaften betrugen 20, 25, 100, 200 bis 300 %. Das bedeutet: Europa hat sich auf Kosten anderer Erdteile gewaltig bereichert.

Ein Teil des Gewinnes ist in Luxus und Wohlleben verbraucht, ein anderer zu Gold- und Silbergeräten und Münzen umgearbeitet worden. Große Summen dieser Gelder haben die europäischen Regierungen zur Führung ihrer Kriege verwendet. Mit städtischen Steuern, die reiche Kolonialhändler bezahlt haben, wird mancher stolze Bau und mancher vielbewunderte Platz in Paris, London undAmsterdam geschaffen worden sein. Der Kolonialhandel hat Europa nicht nur bereichert, er hat auchstark zur Änderung unserer Wirtschaftsweise beigetragen. Einst stellte der Handwerker Waren nur für Besteller her, die er persönlich kannte. Zur Einfuhr in die weit entfernten Kolonien mußte manGüter auf Vorrat erzeugen. Zugleich kamen die großen Handelsgesellschaften auf; denn für die einzelnen kleinen Kaufleute war es unmöglich, Handels- und Kriegsfahrten, z. B. von Holland nach Indien, zu unternehmen. Sie mußten sich zu Aktiengesellschaften zusammenschließen. Das größte Kaufhaus des 18. Jahrhunderts, das nur in Europa Geschäfte machte, ein Handelshaus in Amsterdam, hatte 26 Angestellte. In der holländisch-ostindischen Handelsgesellschaft dagegen arbeiteten 25 Direktoren, 16 Buchhalter, 28 andere Handelsgehilfen und etwa 1200 Arbeiter. Die Angestellten in Indien waren in verschiedene Rang- und Besoldungsklassen eingeteilt. Die Beamten stiegen allmählich von den unteren zu den oberen Stufen empor. Nach und nach nahmen sich die größeren europäischen Geschäfte diese Ordnung der überseeischen Handelsgesellschaften zum Vorbild.

Die Kolonisierung hat ferner mit dazu beigetragen, daß Europa heute in Außereuropa für seine Gütererzeugung Rohstoffe und Absatz suchen muß. So wird es von den einst beherrschten Gebietenselbst innerlich abhängig. Dazu kommt, daß in den überseeischen Ländern immer mehr europäisch-amerikanische Maschinen und Industrien eingeführt werden. Der Geschäftsmann sagte sich: Statt dieRohstoffe - Baumwolle, Seide, Leder - aus dem Ursprungslande, z. B. Indien und China, nach Europa zu transportieren und die Fabrikate wieder zurückzubringen, könnte ich die Fabrik gleich an Ort undStelle einrichten; so erspare ich die Transportkosten und einen großen Teil der Arbeitslöhne; indische und chinesische Arbeiter sind viel billiger als europäische. Auf diese Weise ist in Indien eine Jute- und Baumwoll-, in Südamerika eine Leder-, Schuhwaren- und Lebensmittelindustrie entstanden.

Mit der Einrichtung von eigenen Fabriken begannen asiatische und andere überseeische Länder schon vor 1914. Während des Weltkrieges haben sie jedoch in einem viel rascheren Tempo als bis dahin solche Neuanlagen erstellt, weil sie sich zu einem großen Teil selbst versorgen mußten; Europa konnte ja nichts oder nicht genügend liefern. Der Anteil Europas am Welthandel (Aus- und Einfuhr sämtlicher Staaten zusammengezählt) betrug 1890 75 %, 1913 66 % und 1925 57 %. Man erkennt: Unser Erdteil hat sich durch den letzten Krieg selbst schweren Schaden zugefügt.

Wie die Industrie sich einst von England aufs Festland verpflanzte, so wandert sie heute also von Europa und Amerika nach Asien und schafft den ursprünglichen Industrieländern scharfe Konkurrenz. So wenig als damals läßt sich diese Wandlung heute verhindern. Maschinen und ihre Erzeugnisse werden immer mehr überhandnehmen und viele Unterschiede zwischen Völkern und Staatenbeseitigen. Vermutlich wird Europa seine Herrenstellung gegenüber den andern Erdteilen immer mehr verlieren. Vielleicht steht in Geschichtsbüchern späterer Jahrhunderte einst zu lesen: Der Welt-krieg von 1914 bis 1918 bedeutete einen Wendepunkt; seit dieser Zeit gingen Macht und Wohlstand Europas allmählich zurück ; andere Weltteile rückten an seine Stelle.

 

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