Wengi
Kleine Gemeinde, grosse Namen
Die Kirchgemeinde Wengi ist mit ihren heute etwas mehr als 500 Einwohnern eine der kleinsten im Kanton Bern und hat keine grosse historische Vergangenheit aufzuweisen. Immerhin scheint sie in weit zurückliegender Zeit eine gewisse Rolle gespielt zu haben, denn im Mittelalter bis etwa 1400 gab es ein «Dekanat Lyss- Wengi››, welches einen der über sechzig Sprengel des Bistums Konstanz darstellte. Auch hat das kleine Wengi grosse Männer hervorgebracht. In einer gut siebzigjährigen Chronik lesen wir: «Die niedere Gerichtsbarkeit besass lange Zeit das in Solothurn verburgerte, vornehme Geschlecht der «Edlen von Wengi», In der Schweizer Geschichte ist der Name des zwischen Katholiken und Reformierten vermittelnden Schultheissen Niklaus Wengi allbekannt. Er mochte auch gegen die Beschiessung des jenseits der Aare von den Reformierten besetzten Spitals umso mehr Grund haben, da dieses Spital von seinen Vorfahren gestiftet worden war.
Östlich vom Dorfe steht auf einer Brücke ein in neuerer Zeit errichtetes Denkmal mit seinem Bildnis zum Andenken an seine patriotische Tat. Der 1,55 m hohe und 85 cm breite Denkstein stellt in einem Relief auf eherner Tafel den vor der Kanone stehenden Schultheissen mit der Inschrift «Niklaus Wengi, Schultheiss 1533» dar.
Zu der Kirchgemeinde Wengi gehört auch der Weiler Janzenhaus, Heimat des 1821 dort geborenen und 1881 verstorbenen Bundesrates Jakob Stämpfli, der von hier aus in einem Rechtsbureau des nahe gelegenen Büren seine Karriere als Lehrling begann. Ende der dreissiger Jahre setzte er seine juristischen Studien unter der Leitung des die Studenten begeisternden Professors Wilhelm Snell an der bernischen Hochschule fort. 1846, also kaum 25 Jahre alt, kam er in den bernischen Regierungsrat und 1854 an Stelle Ochsenbeins in den Bundesrat, aus dem er Anfang der sechziger Jahre austrat, um an die Spitze der damals neu gegründeten, sogenannten eidgenössischen Bank zu treten»
Ursprüngliches Dorfbild
Das Dorf Wengi ist von der stürmischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte kaum erfasst worden und hat infolge der nur geringen Bautätigkeit sein äusseres Aussehen wenig verändert. Das Dorfbild wird weiterhin dominiert von der am Südrand gelegenen hübschen Baugruppe, bestehend aus Kirche, Pfarrhaus mit Scheune und Stöckli und dem Schulhaus. Man kann nur hoffen, dass dieses Bild erhalten bleibt und nicht etwa die renovationsbedürftige Pfarrscheune aus reinen Nützlichkeitserwägungen eines Tages abgebrochen wird.
Unbekannte Vergangenheit
Von zwei Kapellen, die bei Wengi und bei Scheunenberg gestanden haben sollen, ist nicht einmal mehr der Standort überliefert. Über die Baugeschichte der ursprünglich mehreren Heiligen geweihten Dorfkirche ist weniger bekannt als andernorts. In der Kirche finden sich über dem Eingang zum Turm in etwas merkwürdiger Anordnung die wichtigsten Jahrzahlen für die Baugeschichte. Die Quelle der Angabe «Erster Bau um 900» ist dem Verfasser nicht bekannt, aber sie weist in eine Zeit, in der etliche Kirchen im Bernbiet gegründet worden sind. Auf jeden Fall sind aber von dieser ersten Kirche keine Bauelemente mehr sichtbar.
Brand und Neubau
Der heutige Bau stammt im wesentlichen aus dem Jahre 1522. Nach einem Brand 1521 musste die Kirche neu gebaut werden. Der Neubau wurde dem heiligen Mauritius gewidmet, beziehungsweise geweiht. Seither wurden verschiedene bauliche Veränderungen vorgenommen, vor allem gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Diese Renovation scheint nur recht mühsam zustandegekommen zu sein.
Schon 1687 musste die Vennerkammer in Bern feststellen, «in waass schlechtem Zustand» das «Choor in der Kirche zu Wängi» sich befinde und beschloss Massnahmen «zu beschleunigung der unvermeidlichen Reparation»Sie gab die Bewilligung, «in den Buchseewäldern zwey Saag-Tremel hiezu zu verzeigen».
Trotzdem wurde die Arbeit erst zehn Jahre später in Angriff genommen, und diesmal musste die Vennerkammer nicht für die Renovation des dem Staate gehörenden Chors sorgen, sondern der Gemeinde mit einer Subvention für die Gesamtkosten beistehen. Das geschah aufgrund einer von den Verantwortlichen in Wengi vorgebrachten «Supplication umb beyhülf zu benöthigter Reparation Ihrer dem ruin trüwender Kirche». Also schon damals die heute noch den Bürgern von Wengi sattsam bekannten Sorgen der kleinen, wirtschaftlich schwachen Gemeinde.
Renovation 1874 / 75
Die folgenschwersten Eingriffe brachte eine Renovation vor gut hundert Jahren. Damals wurde der Turm verändert, und zwar musste er - gemäss einer verbreiteten Mode - erhöht werden. Das bedeutete das Ende des einfachen, klassischen «Käsbissen»-Turms, der auf dem Stich von Samuel Weibel aus dem Jahr 1823 abgebildet ist. Allerdings kann man den Wengigern zugutehalten, dass sie, nach verschiedenen, im Pfarrarchiv erhaltenen Plänen zu schliessen, noch das «mildeste» Projekt wählten. Im weitern ist festzustellen, dass die Gemeinde im Jahre 1873 eine im Rahmen der Gesamtrenovation vorgeschlagene «Verhöhung des Thurmes» mit 41 zu 40 Stimmen abgelehnt hatte. Warum schon zwei Jahre später, und zwar nach Abschluss der übrigen Renovationsarbeiten, der Turm dann doch noch umgebaut wurde, ist nicht klar. Entsprechende Beschlüsse fehlen in den Protokollen. Dafür liegt ein Bericht über die Renovation von Kantonsbaumeister Salvisberg von Ende 1874 vor. In diesem findet sich eine von dieser Stelle nicht ohne weiteres zu erwartende kritische Bemerkung über den alten Turm: «Mit Ausnahme des stumpfen burgundisehen Thurms, für welchen die Gemeinde keinen neuen Helm beschloss, macht das ganze einen freundlichen Eindruck, zu welchem die Lage des Gebäudes wesentlich beiträgt.» Es scheint also, dass man damals behördlicherseits die von uns als Verunstaltung empfundenen Umbauten der Türme gefördert hat, und es ist nicht auszuschliessen, dass die Bemerkung des Kantonsbaumeisters in Wengi eine Wendung herbeigeführt hat.
Von der Kirche ins Museum
Bei der vorangegangenen Renovation (1874) spielte die Erneuerung der Kirchenfenster eine verhängnisvolle Rolle. Nur auf Intervention des Kantonsbaumeisters konnte verhindert werden. dass das gotische Masswerk der Fenster zerstört wurde. Der Spengler, welcher die neuen Fenster lieferte, war der Meinung, er könne die bisherigen Fenster behändigen. Darunter befanden sich freilich fünf wertvolle Glasgemälde aus der Zeit um 1523. Eines davon, das im Schiff angebracht war, scheint während der Renovation zerstört worden zu sein. Die vier andern liess der Spengler aus Büren mitlaufen. Als der Kantonsbaumeister Nachforschungen über den Verbleib der Scheiben anordnete, gab der Spengler an, er habe sie einem Antiquar in Kirchberg für 100 Franken verkauft. In einer ersten Version wollte er sie für 20 Franken an einen unbekannten Hausierer «verhandelt» haben.
Von Kirchberg kamen sie für 500 Franken an den Antiquar Woog in Bern und von dort in die Sammlung des angesehenen Berner Bankiers Friedrich Bürki, der mit dem Versprechen, ein Nationalmuseum zu gründen, vielen Gemeinden im ganzen Land wertvolle Gegenstände abkaufte. So «tauschte›› er in Wengi die zierlichen, silbervergoldeten Abendmahlsbecher gegen neue aus, wobei er den Kirchgemeinderat damit erwischte, dass er darauf hinwies, die neuen Becher seien schwerer, also wertvoller als die alten.
Als der ledige Bürki 1880 freiwillig aus dem Leben schied und (angeblich) kein Testament hinterliess, verkauften seine auf Bargeld erpichten beiden Neffen die Gegenstände der kostbaren Sammlung in einer Auktion, die sie, um die Berner zu ärgern, nach Basel ansetzten. Die bernische Burgerschaft Veranstaltete eine Geldsammlung und liess durch Basler Mittelsmänner möglichst viele bernische Kostbarkeiten ersteigern und rettete sie damit für Bern. Darunter befanden sich die vier Scheiben aus der Kirche Wengi, die zusammen mit all dem gesteigerten Kunstgut (die Abendmahlsbecher kamen bald auch dazu) den Grundstock des in den neunziger Jahren gegründeten Historischen Museums in Bern bildeten. Dort sind Scheiben und Becher heute noch zu besichtigen, aber sie können (leider) für ihren ursprünglichen Ort nicht mehr zurückgefordert werden. Der nicht sehr gut beleumdete Spengler wurde übrigens für seine Machenschaften strafrechtlich verfolgt. Das Urteil ist leider nicht bekannt.
Bei den aus unmittelbar vorreformatorischer Zeit stammenden Scheiben handelt es sich um je eine Standesscheibe von Bern und Solothurn; eine dritte ist eine Wappenscheibe von Erlach-Hertenstein, und die schönste stellt den heiligen Vinzenz mit dem Palmzweig dar. Die zerstörte Scheibe zeigte das Wappen der Stadt Burgdorf.
Die heutige Ausstattung
Nach diesem bedauerlichen «Aderlass›> blieben der Kirche Wengi an wertvollem Kunstgut nur noch die Kanzel und der Taufstein. Die Kanzel ist gekennzeichnet durch die auffallend getreue Nachbildung der Fenster im Schiff und ihrer Masswerke. lm Taufstein ist die Jahrzahl 1696 eingemeisselt. Kanzel und Taufstein sind aus fein bearbeitetem Sandstein. Leider sind sie in ungünstiger Zeit mit Gips geflickt und mit Ölfarbe überstrichen worden. Eine fachmännische Restaurierung könnte hier beachtenswerte Beispiele bernischer Steinhauerkunst neu zur Geltung bringen. Bei der Renovation 1931 bekam die Kirche neue farbige Scheiben von Kunstmaler Linck. Ein Weihnachts- und ein Karfreitagsfenster im Chor fügen sich in unaufdringlichem Farbenspiel und markanter Linienführung harmonisch in das gotische Masswerk ein. In der gleichen Zeit wurden im Schiff und im Chor kleine Wappenscheiben, die von einigen einheimischen Familien gestiftet wurden, eingesetzt.
Glockenschicksale
Der Turm enthält vier Glocken. Ursprünglich waren es zwei gewesen. Die ältere. eine Ave Maria-Glocke mit einem Crucifixus mit Maria und Johannes aus dem Jahre 1422 eventuell 1522, kam vor hundert Jahren als Feuerglocke nach Scheunenberg und hängt seit 1925 im damals erbauten Schulhaus Scheunenberg. Über den Verbleib der andern aus dem Jahre 1660 weiss niemand Bescheid. Doch gibt uns ein Archivheft aus dem Jahre 1882 noch folgende Angaben: Die Glocke war reich verziert mit Wappen und einer aus vielen Tieren bestehenden Jagdszene. Am oberen Rand trug sie die Inschrift: «Verlassend nit die Versammlungen, wie etliche pflegen. Sonder ermahnet einander. Hebr. X, 25.» - Und am unteren Rande war der Hinweis zu lesen: «Abraham Zehnder zu Bern gos mich.» Nach dem Umbau des Turms wurden 1876 drei neue Glocken aufgezogen. Sie enthalten Sprüche wie «Einer für alle, alle für einen››, «Durch Nacht zum Licht››. Eine weitere, die kleinste, kam 1892 dazu. Sie war ein Geschenk von Grossrat Rudolf Zingg in Diessbach zur Erinnerung an seinen Schwiegervater Niklaus Wyss aus Waltwil.
Orgeldynastien
Als Orgel diente bis in die sechziger Jahre ein seinerzeit ziemlich lautes Instrument aus der für Orgeln vielleicht ungünstigsten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. (Goll-Orgel, erbaut 1917, 14-Register.) Es wurde 1954 in bestmöglicher Weise umgebaut. Als die Orgel vor einigen Jahren vermehrte technische Schäden zeigte und den Geist aufzugeben drohte, konnten die verantwortlichen Behörden von Wengi der Versuchung, eine (billige) Elektronenorgel anzuschaffen, in begrüssenswerter Weise widerstehen und entschlossen sich zu der vernünftigen «mittleren Lösung in Form eines Serien-Instruments süddeutscher Fabrikation. Die Orgel scheint den ihr zugedachten Dienst zu allseitiger Befriedigung zu leisten. Die oben genannte Goll-Orgel löste ein Werk aus dem Jahre 1874 ab. Nach Eintragungen in alten Chroniken ist anzunehmen, dass Wengi seine erste Orgel um 1768 erhielt. Es könnte sich dabei um ein Werk aus der Klavierbauer-Dynastie Hauert (Howard) aus Wengi gehandelt haben.
Eine gute Pfründe
Von den einzelnen Geistlichen von Wengi gibt es wenig zu berichten. Seit der Reformation amtierten in Wengi nur rund dreissig Pfarrer. Die hohe durchschnittliche Amtsdauer und der Umstand, dass die Hälfte davon bis zum Tode oder zum Rückzug vom Pfarramt in Wengi blieben, lässt den Schluss zu, dass es sich um eine «gute›› Pfründe handelte. Das heisst: die Einkünfte, auf die der Pfarrer früher angewiesen war, flossen befriedigend. (Zum Vergleich: Die grosse Gemeinde Köniz «verbrauchte>› in der entsprechenden Zeit mehr als doppelt so viele Geistliche !) Schlimm waren natürlich auch bei einer guten Pfründe die Verhältnisse für die Pfarrwitwen. Als 1635 Pfarrer Escher starb, musste seine Frau bei den Behörden in Bern um Beistand und um Erstreckung der Frist zum Auszug aus dem Pfarrhaus bitten. Der Pfarrer hatte für seinen Sohn im Dorf eine Schmiede gekauft, die aber bei seinem Tod noch nicht voll bezahlt war. lm Gegensatz dazu konnte Pfarrer Johann Franz Wyss 1748 ohne Vorbehalt vorzeitig zurücktreten, «wurde ihme aber lebenslenglich alle jahr ein fass Lacotewein zuerkannt››. Er soll «reich und gross beleibt» gewesen sein.
Ein bedeutender Vertreter seines Standes scheint der von 1851-1864 in Wengi amtierende Jakob Furer gewesen sein. Zeitgenossen bezeichneten ihn wegen «Gewissenstreue, Liebeseifer und geistiger Begabung» als «Zierde des bernischen Klerus» Bemerkenswert ist auch die lange Dauer (von 1875-1931) der Ära Lehmann, Vater und Sohn. Der Sohn kam erst über den zweiten Bildungsweg zur Theologie, nachdem er zuerst den Käserberuf erlernt hatte! Dessen Sohn und Enkel, beide ihres Zeichens Zahnärzte, setzten die Ära Lehmann als Organisten an der Kirche Wengi bis heute fort!
Ein Stück Geschichte
Die Kirche Wengi gehört gewiss nicht zu den seeländischen Sehenswürdigkeiten, die in Reiseführern mit Sternen bedacht werden. Aber sie repräsentiert in ihrer schlichten Sachlichkeit ein gutes Stück bernischen Kirchentums, wie es der nüchternen Lebenseinstellung der Bewohner dieses Landstrichs entspricht.