Die Kirche zu Rapperswil


Die Kirchgemeinde Rapperswyl, umfassend die Dorfschaften Rapperswyl, Frauchwyl, Wierezwyl, Seewyl, Moosaffoltern,Dieterswyl, mit einem Theil Vogelsang,Bittwyl, und mit dem andern Theil Vogelsang und Zimlisberg, baut diese neue Kirche zu Lob und Ehr des dreieinigen Gottes.» So steht es in dem Dokument, das bei der Grundsteinlegung am 12. November 1860 im Fundament des Turmes eingesenkt worden ist. Ein weiteres Zitat aus diesem Dokument: «Wird der Bau mit Gottes Hülfe nach des Meisters Plan zur Vollendung gebracht, so mögen unsere Nachkommen daraus den kirchlichen Sinn und die Opferfreudigkeit erkennen, womit das jetzige Geschlecht bereit und willig war, dem Herrn ein würdig Haus zu bauen.»


Die frühere Kirche

von der alten Kirche die durch den Neubau von 1860-1862 ersetzt worden ist, sind nach dem Aussterben der Augenzeugen nur wenige sichere Überlieferungen vorhanden. Dieses alte Gotteshaus stand am Abhang zwischen der jetzigen Kirche und dem nunmehr «alten» Pfarrhaus. Die lange Kirchhoftreppe durchschneidet den gedachten Grundriss der alten Kirche. Genannt wird sie in manchen noch erhaltenen Dokumenten, die bis ins hohe Mittelalter zurückreichen. Daraus geht auch hervor, dass sie ursprünglich dem Erzengel Sankt Michael geweiht war. Die Wahl dieses Kirchenpatrons scheint auf eine sehr frühe Entstehungszeit der Kirche hinzuweisen. Es wird aufgrund von Funden aus der Römerzeit auch vermutet, dass diese Kirche auf den Resten eines römischen Tempels erstellt worden ist. Die 1860 abgebrochene Kirche wird als baufällig, dunkel und zu klein geschildert. Der Chor sei schon ganz in der Erde des Kirchhügels gelegen. Das bei der Renovation von 1979/80 zutage getretene Mischmauerwerk erhärtet die Überlieferung, dass Abbruchmaterial der alten Kirche beim Neubau wieder Verwendung fand.

Die neugotische Kirche

Sie wurde nach dem damaligen Zeitempfinden in Anlehnung an die mittelalterlichen Bauformen der Gotik entworfen und ausgeführt. Nach reiflichem Abwägen entschloss man sich, vor allem des westlich stark abfallenden Terrains wegen, von der ,uralten Tradition des nach Osten gerichteten Chors abzugehen und diesen nach Westen zu orientieren. Der Turm kam so auf das solidere Ostende des Plateaus zu stehen, und die Eingangsfassade ist dem «Oberdorf» und der Hauptstrasse Bern-Büren zugewendet. Diese streckenweise nach französischer Art schnurgerade angelegte Strasse ist auch ein «Kind» jener Epoche (erbaut 1847/48) - die alte Bern-Büren-Strasse führte einst durch das Rapperswiler «Unterdorf» nach Schwanden bei Schüpfen. Der Turm und seine Fassade, wie überhaupt die grosszügige Bemessung der neuen Kirche, haben auch etwa zur Redeweise vom «Münster auf dem Lande» geführt. Der hohe Turm mit seinen achtundvierzig Metern (inklusive dem Kreuz) ist das Wahrzeichen der weitgewellten Landschaft zwischen Bangerten-Dieterswil und Frauchwil. Die Hauptfassade und der Turm bestehen aus Sandstein aus dem Stockernbruch bei Bern.


Das «Münster auf dem Lande»


Durch das Erdgeschoss des Turmes führt der Haupteingang in das Innere der Kirche. Die Rapperswiler Kirche ist eines der wenigen unverändert erhalten gebliebenen Baudenkmäler der Neugotik. Wohl der bedeutendste Kirchenbau dieser Art in der Schweiz ist die St.-Elisabethen-Kirche in Basel. Vor nicht allzu langer Zeit stand die Neugotik weniger hoch im Kurs als heute, wo man sich wieder mit grösserer Sorgfalt und Respekt der Zeugen jener Stilepoche des «Historismus» annimmt. So würde heute wahrscheinlich auch das neugotische Gehäuse der alten Orgel beibehalten, auf das man noch 1962 - beim Bau des sehr bemerkenswerten neuen Instrumentes - glaubte verzichten zu können. (Ein Werk mit 27 Registern der Gebrüder Wälti, Gümligen; dieses ersetzt ein Goll-Instrument mit 9 Registern aus dem Jahre 1906. Die erste Orgel erhielt die Kirche 1863. Es handelte sich um ein Werk von Louis Kyburz aus Solothurn.)

Ausser in diesem einen Punkt ist das gesamte Stilensemble intakt - nicht nur formal, sondern auch was die Materialgerechtigkeit betrifft. So konnte das (nichttragende) Gewölbe in seiner ursprünglichen Unterkonstruktion aus Holzrost und Gipsputz erhalten bleiben und musste nicht durch neue Materialien ersetzt werden. Eine gutgemeinte Farbgebung und der Klinkerboden einer früheren Innenrenovation (1932) wurden ersetzt. Ebenfalls wurden die unförmigen Kanäle der Luftheizung und der Vorhang unter der Empore im ,Zuge der jüngsten Renovation 1979/80 entfernt. Diese Erneuerung des Kircheninnern erfolgte unter der Leitung von Architekt W. Bagert von der Firma Indermühle Architekten AG Bern und unter der Beratung des kantonalen Denkmalpflegers Architekt H. von Fischer.


Schöne Raumwirkung


Besonders durch die letztgenannten Massnahmen wurde die schöne Raumwirkung wieder voll zur Geltung gebracht. Unter der gut proportionierten Empore hindurch tritt man in das Kirchenschiff und wird von der Weite des Raumes nicht erdrückt, sondern freundlich aufgenommen. Dieser Innenraum darf wohl als das Beste am Bau bezeichnet werden. Durch insgesamt fünfzehn hohe Bogenfenster flutet reichlich das Tageslicht in den weiten, hohen Raum, der nach der neuen Farbgebung einen freundlichen und leichten Eindruck macht. Dennoch verschwimmt in diesem Raum nichts, sondern behält klare, ruhige Konturen. Drei Chorfenster mit ihrem figürlichen Schmuck wollen entsprechend dem Zeitempfinden der Neugotik den Blick des Betrachters in «unendliche Weiten» führen, über den Standort des Predigers und über den Abendmahlstisch als den eigentlichen Zentren der Gemeinde hinaus. Diese drei mittleren Chorfenster sind -  wie auch der Ornamentale Schmuck aller übrigen Glasfenster der Kirche – im Atelier von Glasmaler J. Röttinger in Zürich hergestellt worden. Im mittleren Fenster ist Christus dargestellt. Im Fenster links die beiden Evangelisten Matthäus und Markus. Für die Darstellungen dieser Glasfenster benützte der Künstler Zeichnungen von Friedrich Overbeck (führender Kopf der Malerschule der «Nazarener», die einen romantisch-mittelalterlichen Stil pflegte). Der Darstellung der beiden Evangelisten Lukas und Johannes, rechts von Christus, dienten Meisterwerke von Albrecht Dürer als Vorlage. «Je weniger ein billig denkender Beurtheiler in diesen Gemälden vollendete Kunstwerke suchen wird (auf solche durfte die Gemeinde bei ihren beschränkten Mitteln nicht Anspruch machen), desto eher wird er sagen müssen, der Künstler habe seine Aufgabe auf höchst anerkennenwerthe, ja ausgezeichnete Weise gelöst» - so liest man schon in der Einweihungsschrift vom Jahre 1862.

Diese drei Mittelfenster im Chor gehen auf ein Legat von Johann Zingg aus Frauchwil zurück, welcher im Januar 1861 starb. Zu diesen drei gemalten Fenstern kam 1947 ein viertes hinzu, gestiftet von Frau Dick-Gerber zum Andenken an ihren verstorbenen Gatten Adolf Dick, der viele Jahre Kirchgemeinderat und zuletzt dessen Präsident war. Das Fenster stellt die Auferstehung Christi dar und wurde vom Kunstmaler Paul Zehnder in Bern entworfen (rechtes Fenster im Chor, gegenüber der Kanzel).


Das Verständnisdes Kirchenbaus

In Albert Schweitzers Aufzeichnungen «Aus meiner Kindheit und Jugendzeit» findet sich eine Passage, die die Auffassung des Kirchenraums im 19. Jahrhundert (aus dem unsere Kirche stammt) besonders treffend illustriert.
Albert Schweitzer schreibt: «In dem Heimweh nach den Günsbacher Sonntagen, wie ich es zu Mülhausen erlebt, spielte auch der gottesdienstliche Raum eine Rolle. Die schöne neue Mülhauser Kirche kam mir furchtbar nüchtern vor, weil sie keinen Chorraum hatte. In der Günsbacher Kirche aber konnte sich mein andächtiges Träumen in einem katholischen Chor ergehen. Die diente nämlich zugleich dem protestantischen und dem katholischen Kult. Als das Elsass durch Ludwig XIV. französisch wurde, bestimmte dieser, um die Protestanten zu demütigen, dass in den protestantischen Dörfern, in denen zum mindesten sieben katholische Familien wohnten, den Katholiken der Chor eingeräumt werden müsste. Allsonntäglich sollte ihnen die Kirche zu bestimmten Stunden für ihren Gottesdienst zur Verfügung stehen. So Kirchen protestantisch und katholisch zugleich sind.

Der katholische Chor, in den ich hineinschaute, war für meine kindliche Phantasie der Inbegriff der Herrlichkeit. Ein goldfarben angestrichener Altar mit mächtigen Sträussen künstlicher Blumen darauf; grosse metallene Leuchter mit majestätischen Kerzen; an der Wand, über dem Altar, zwischen den beiden Fenstern, zwei grosse goldfarbene Statuen, die für mich Joseph und die Jungfrau Maria bedeuteten; dies alles umflutet von dem Lichte, das durch die Chorfenster kam; und durch die Chorfenster hindurch schaute man auf Bäume, Dächer, Wolken und Himmel hinaus, auf eine Welt, die den Chor der Kirche in die unendliche Ferne fortsetzte und mit dem Scheine der Verklärung umflossen war. So wanderte mein Blick aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit; Stille und Friede überkamen meine Seele»


Der Kirchenraum der Reformatoren


Nıemand wird Albert Schweitzers Ausführungen einfach ins Reich der Nostalgie verweisen wollen. Dennoch entsprechen sie nicht dem ursprünglichen Verständnis des evangelischen Gottesdienstes und Kirchenraums. Allerdings sind in diesem Punkt die Reformatoren schon bald nicht mehr richtig verstanden worden - gerade im 19. Jahrhundert nicht, der Zeit unseres Kirchenbaus und der Jugenderinnerungen Albert Schweitzers. Vielfach dauert dieses Missverständnis bis in unsere Tage weiter an. Dies hat Architekt Dr. .c. Otto H. Senn in seinen Untersuchungen gezeigt: Gegenüber der mittelalterlichen Kirche, die geteilt ist in den Chor (als Ort des Klerus und des gottesdienstlichen Geschehens) und in das Schiff (als Ort des anwohnenden Volkes) hier die eine Versammlung als Träger des Gottesdienstes. Diese neue Unterscheidung findet nicht nur in ersten Kirchenordnungen der noch jungen Reformation ihre Bestätigung. In sehr schöner und origineller Weise wird sie unterstützt durch den grossen Theologen Karl Barth (1886- 1968).


Der Gottesdienst


Karl Barth hat sich dazu so geäussert: «Der Gottesdienst als Zentrum des ganzen Lebens der Gemeinde hat sich seinerseits als ein Ganzes der Anrufung des gnädigen Gottes darzustellen››, so beginnt er mit dem Gesang der Gemeinde und mit «der Aussprache ihres Dankes, ihrer Busse, ihrer besonderen Bitte um Gottes Gegenwart und Beistand. Er steigt auf zur Predigt, in der die Anrufung in Auslegung und Anwendung eines Schriftwortes zur Anrede und Verkündigung wird. Er gestaltet sich von da aus absteigend zum Schlussgebet, in welchem die Aussage der Predigt straff zusammenzufassen ist, in welchem sich aber der Gottesdienst vor allem als möglichst ausgebreitete Fürbitte- …nach aussen, nach allen anderen Menschen, nach der übrigen Kirche und Welt hin zu öffnen hat. lm zweiten gemeinsamen Gesang macht sich die Versammlung dieses Schlussgebet zu eigen», und dann endet der Gottesdienst, wie ihn Barth im Alter verstehen wollte, mit dem Segen. (Vergleiche Eberhard Busch «Karl Barths Lebenslauf››,München 1975.)


Der Ort des Gottesdienstes


Was den Raum betrifft, wünschte Karl Barth die Sitzanordnung der Gemeinde in einem Halbrund, und «die ideale Lösung des Problems der Gestaltung der Mitte» sah er «in der Aufstellung eines markanten, aber von einem «Altar» deutlich unterschiedenen, hölzernen und leicht erhöhten Tisches. Er hätte - dazu mit einem beweglichen Pultaufsatz zu versehen - zugleich als Predigtstätte und als Abendmahlstisch und an Stelle eines «Taufsteins» zu dienen. _ . Bildliche und symbolische Darstellungen sind an keiner Stelle des protestantischen Kirchenraumes am Platz_» Des weiteren meinte er, «dass die Orgel - ein i Zusammenhang des christlichen Gottesdienstes mir im wörtlichen Sinn «unheimliches» Element, das in den Konzertsaal, nicht in die Kirche gehört- zu ersetzen wäre durch vier Blasinstrumente als Träger des Gemeindegesangs». lm Blick auf die Gestaltung des Gottesdienstes schlug Barth vor, die Kollekte nicht «erst beim Ausgang, also nach Schluss des Ganzen» zu erheben, und vor allem: regelmässig Abendmahl zu feiern. «Warum wird bei uns nicht jeden Sonntag in jeder Kirche auch das Heilige Abendmahl gefeiert? Und wäre es auf Kosten der Länge unserer Predigten und des viel zu vielen … Orgelspiels, dafür in legitimer Entkrampfung des Predigers und seiner Hörer .. ! Gelegentlich könnte dann auch die Taufe. … (auch sie ohne unnötigen Wortschwall) den Beginn des Ganzen bilden. Würden wir nicht gerade so umfassend «Kirche des Wortes», - des Wortes, das nun einmal nicht Rede, sondern Fleisch wurde?»

Ausblick


Was sollten und konnten wir von diesen Anregungen in der 1979/ 1980 renovierten Kirche verwirklichen? Von der Konzeption her ist sie ein Zeuge des Historismus. Der Teilnehmer am Gottesdienst findet sich mit allen anderen Anwesenden in den restaurierten Banken in der Längsachse ausgerichet, mit dem Blick auf die Chorfenster und, wenn ihm danach zumute ist, «mit dem Blick aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit _ _ _» Stille und Frieden mögen jedem Kirchenbesucher geschenkt werden!


Im Ersatz der vordersten Bankreihen vor dem Quergang durch Stühle wird nicht nur Bedürfnissen des regen Konzertlebens entsprochen, sondern ein kleiner Schritt auch zu beweglicheren Formen des Gottesdienstes möglich, indem bei besonderen Gelegenheiten zur Abwechslung die Gemeinde sich um den Tisch versammelt, wie K. Barth im Sinne der Reformation es empfohlen hat. Jedenfalls gilt, was Pfarrer Walter Spielmann beim Abschluss der Aussenrenovation von 1958 geschrieben hat:

«Wir wollen uns hüten, in unserer neu renovierten Kirche nur eine Art Museumsstück zu sehen, das wir etwa einem Besucher mit Stolz zeigen. Wir wollen es vielmehr halten als Haus Gottes, wo der dreieinige Gott auf uns wartet, um uns in seinem Wort und Sakrament zu begegnen, möchten wir doch der Einladung der vier Glocken immer freudig folgen, weil wir mit dem Erzvater Jakob erkennen: <Wie heilig ist diese Stätte!  So sind wir also nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist. (Epheser 2, 19-20).»

 

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