Neue Kirche Lyss

Wachsendes Dorf

Vom frühen Mittelalter bis anfangs des 20. Jahrhunderts genügte räumlich die alte Kirche mit ihren 300 Sitzplätzen. 1556 wies Lyss 50 Feuerstätten auf, was auf rund 250 Einwohner schliessen lässt. 1764, also 200 Jahre später, zählte man 567 Personen. Doch der Bau der Eisenbahn Bern-Biel 1864 bewirkte ein sprunghaftes Anschwellen der Einwohnerzahl auf 2567 im Jahre 1890. Deshalb beschloss 1893 der Einwohnergemeinderat, einen Baufonds für eine neue Kirche zu speisen. Und 1914 wurde unter bernischen Architekten ein Preisausschreiben für eine neue Kirche samt Pfarrhaus eröffnet. Diese Kirche sollte nicht über 180 000 Fr. zu stehen kommen. Ein Betrag von 4400 Fr. war als Preissumme ausgesetzt.

Krieg verzögert den Neubau

Doch dann brach am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg aus, so dass die Eingabefrist für die Projekte mehrmals verschoben werden musste. Endlich, am 15. Juni 1915, amtete das Preisgericht. 87 Projekte lagen vor, alle zur Beurteilung zugelassen. In den ersten Rang kam das Projekt von Architekt Hans Klauser, Bern. Aus dem Bericht des Preisgerichtes sei folgendes zitiert: «Die Kirche wird dem Ortsbilde ein typisches Gepräge geben und sich samt dem Pfarrhaus gut in die Silhouette der Ortschaft einfügen. Die Situation macht es möglich, dass vom Hauptzugang her ein hübscher Blick auf die Eingangsseite der Kirche entsteht und gleichzeitig ein Kirchenplatz sich bildet. Die Raumwirkung des Innern verspricht gut zu werden wegen symmetrisch klarer und einfacher Anordnung des Grundrisses»

Bau eines Pfarrhauses

An einen Baubeginn durfte man damals nicht denken, Der Wahnwitz des Weltkrieges dauerte bis in den Spätherbst 1918. Die vorgesehene Bausumme von 180 000Fr. konnte keinesfalls mehr ausreichen. Zudem war der Bau des neuen Pfarrhauses vordringlich, da sich das alte nicht mehr länger als bewohnbar erwies. Am 11. April 1926 beschloss deshalb die Kirchgemeinde, auf Frühjahr 1927 mit dem Bau des Pfarrhauses zu beginnen, und schon am 6. November 1927 konnte es feierlich eingeweiht werden. Mit den Umgebungsarbeiten kostete es rund 80 000 Fr. Glücklicherweise hatte man in den Jahren seit 1914 den Baufonds kräftig geäufnet, so dass er nach dem Bau des Pfarrhauses immerhin noch 232 060 Fr. betrug; aber eine Überarbeitung der Kirchenbaupläne ergab eine notwendige Bausumme von 635 000 Fr. Man beschloss deshalb, die Kirchensteuer von 30 Rp. auf 50 Rp. per %0  zu erhöhen, um in fünf Jahren mit dem Kirchenbau anfangen zu können. Ein Vorstoss aus dem Jahre 1931, mit dem Bau sofort zu beginnen, wurde mehrheitlich abgelehnt. Im Frühjahr 1933 beschlossen 198 anwesende Stimmberechtigte, «das Projekt solle der vorhandenen Bausumme angepasst oder ein ganz neues Projekt erworben werden mit der Bestimmung, die Vorarbeiten Herrn Klauser zu übergeben unter der Bedingung, die Baukosten dürften die Summe einer halben Million keineswegs überschreiten».

Ein Schicksalstag

Pfarrer Baumgartner berichtet darüber weiter: «Eine Studienkommission wurde eingesetzt, beschickt aus allen Kreisen der Bevölkerung, die den ganzen Sommer und Herbst an der Arbeit war. Der 15. November wurde der Schicksalstag. Es war ein Mittwochabend, an dem das alte Kirchlein sich zum Bersten füllte mit 364 Stimmberechtigten, ein halbes Hundert oder mehr musste umkehren. Es war ein erhebender Augenblick, als sämtliche 364 Bürger einhellig die Hand erhoben und damit dem Antrag des Kirchgemeinderates zustimmten, es sei im Winter 1933/34 mit dem Kirchenbau zu beginnen. Der Kostenvoranschlag war von 635 000 Fr. inkl. Geläute auf 516 O00 Fr. ohne Geläute herabgesetzt worden. Ende 1933 waren 508 000 Fr. beieinander. Sodann wurde eine Baukommission gewählt. Im ganzen Dorf herrschte Freude. Selten wohl war die Gemeinde einem so grossen Projekt so einmütig zu Gevatter gestanden.»

Platz für 1000 Besucher

Im 23. April 1934 wurde mit den eigentlichen Bauarbeiten begonnen; am 3. Juni fand die feierliche Grundsteinlegung statt. Und schon am 20. Oktober flatterten hoch oben am Turme die Lysser- und Kantonsfarben neben dem schmucken Aufrichtebäumchen. Über die Raumgrösse sei folgendes festgehalten: das Schiff ist 24 m lang, 16 m breit und 9 m hoch. Die Empore allein bietet Platz für 210 Personen. Kirchenchor und Gesangvereine, die das Jahr durch in geordnetem Turnus an besonderen Sonn- und Feiertagen im Gottesdienst mitwirken, nehmen auf der Empore Platz. Für grosse Kirchenkonzerte hat man jedoch im eigentlichen Chor Platz geschaffen. Die ganze Kirche bietet total 830 Sitzplätze. Der Turm bis zur Uhrenstube misst 22,50 m, der ganze Turm bis zum Kreuz als Abschluss 45 Meter.

Ein stolzes Geläute

Besondere Erwähnung verdient das Kirchengeläute, gegossen von der Glockengiesserei Rüetschi in Aarau. Mit seinen fünf Glocken (gis-H-cis-dis-fis) im Gesamtgewicht von 13 014 kg ist es neben dem Geläute des Berner Münsters eines der schwersten Geläute im Kanton Bern. Die Künstler Schmitz und Perincioli schufen die prächtigen Reliefs auf den Glocken: von Schmitz stammen «Kreuzigung Christi» auf der grössten Glocke (5337 kg) sowie «Auferstehung›> auf der zweitgrössten (3034 kg). Perincioli schuf die Reliefs auf den drei kleineren Glocken: «Geburt Christi» (873 kg), «Ausgiessung des Heiligen Geistes» (1550 kg) und «Dank des Volkes» (2220 kg). Entsprechend den Reliefs auf den Glocken nennt man diese: Karfreitagsglocke, Osterglocke, Pfingstglocke, Bettagsglocke und Weihnachtsglocke. Am 26. Oktober 1935 wurden die Glocken, mit Tausenden von Herbstblumen geschmückt, in feierlichem Umzug unter dem Klang der alten Glocken vom Bahnhof her durchs Dorf zum Kirchplatz geführt. Der anschliessende Glockenaufzug unter Mitwirkung der Schuljugend wird allen damals so zahlreich Anwesenden unvergesslich bleiben.

Eine Kirche der Neuzeit

Am 1. Dezember 1935 fand die Einweihung des neuen Gotteshauses statt. Begleiten wir einen Besucher dieser Feier! Am Eingang erkennen wir zwischen den zwei Hauptportalen die eindrucksvolle Skulptur eines «guten Hirten» von Max Fueter aus Bern. Links und rechts führen Seitenportale auf die Empore. Doch wir treten direkt in den mächtigen, eher nüchtern wirkenden Raum der Kirche. Wo ist da die «Wärme» romanischer oder gotischer Bauart? Handwerkliche Baukunst früherer Jahrhunderte musste hier neuzeitlichem Baumaterial und Konstruktionsmethoden des 20. Jahrhunderts den Vorrang abtreten. Darüber vermag auch das gewaltige Fenster von P. Zehnder vorne im Chor nicht hinwegzutäuschen, Kreuzigung und Auferstehung darstellend. Wohl wirkt es besonders eindringlich unter Einwirkung der Nachmittagssonnenbeleuchtung. Auch das Fenster auf der Empore von Fred Stauffer, eine Weihnachtsszene, leuchtet in starken Farben. Doch wieviel schöner und «Wärmer» wäre der ganze Innenraum der Kirche, wenn alle übrigen Fenster in ähnlicher Weise auf uns wirken würden! Sagen wir es offen: so ist heute die Kirche noch nicht fertig; aber sie ist ja noch jung, und sie kann warten, vor allem auf das «Kunstkollegium» oder einzelne «Liebhaber», denen es vergönnt wäre, aus eigener Tasche ein weiteres bemaltes Fenster zu stiften. Der Staat Bern hat einen bescheidenen Anfang gemacht mit einer Wappenscheibe von Fr. Traffelet. Wer ist der nächste? Doch wir sind ja noch bei der Einweihung. Nun hören wir das Orgeleingangsspiel: Introitus, Tripelfuge und Choral «Wachet auf, ruft uns die Stimme», von J. S. Bach, gespielt vom Berner Münsterorganisten Prof. E. Graf. Die 32 klingenden Register der Metzler-Orgel füllen den weiten Raum und widerhallen fast beängstigend stark. In späteren Jahren hat man tatsächlich die Akustik etwas korrigieren müssen. Doch das anlässlich der Einweihung aufgeführte «Dettinger Te Deum» von G. F. Händel unter der Leitung von J. Debrunner und unter Mitwirkung der Gesangvereine und des Orchesters von Lyss bewies, dass die neue Kirche sich auch bestens eignet für ganz anspruchsvolle, grosse musikalische Darbietungen. Das Ausgangsspiel, Luthers «Deutsches Te Deum», «Herr Gott, dich loben wir» von J. S. Bach möge auch für alle Zukunft für unser kirchliches Wirken richtungweisend sein.