Die reformierte Kirchgemeinde Langnau

Viel einfacher als die Entstehung und Entwicklung der Burgergemeinde lassen sich die Sachverhalte bei der reformierten Kirchgemeinde schildern. Mit der Reformation im Jahre 1528, welche im Kanton Bern als Sache der Regierung durchgeführt wurde, legte diese den Grundstein für die evangelisch reformierte Landeskirche des Kantons Bern. Nach der Disputation von Bern, welche in der Barfüsserkirche stattfand und vorn 6. bis 26. Januar 1528 dauerte, erliess die Obrigkeit das Reformationsmandat. Dieses im Wesentlichen 14 Punkte umfassende Mandat bedeutete die Lösung Berns von der katholischen Kirche und die Errichtung einer eigenen Staatskirche. Für Lengnau wurden die Disputationsakten von Peter Lüpold unterzeichnet, welcher konvertierte und als erster reformierter Pfarrer von 1528 bis 1543 in Lengnau amtete.

Mit der Annahme der Reformation im ganzen bernischen Gebiet drängten sich sofort auch organisatorische Massnahmen auf. So wurde Lengnau, das bisher kirchlich zum Dekanat Solothurn des Bistums Lausanne gehört hatte, neu dem Kapitel Büren zugeteilt, doch blieb das Kollaturrecht, das heisst Aufsicht und Einsatz der Pfarrer, weiter bei dem jeweiligen Abt von Bellelay. Dieser Zustand dauerte bis 1797, also rund 270 Jahre. In dieser Zeit Wurden in Lengnau 15 Pfarrer eingesetzt, was immerhin einer durchschnittlichen Amtsdauer von 18 Jahren entspricht. Mit der Reformation entstanden auch die Kirchgemeinden, welche für die sittliche Erziehung und die soziale Tätigkeit unentbehrlich wurden. Das Fürsorge- und Armenwesen wurde neu geordnet. Die Reformation gab auch Anlass zum Ausbau eigentlicher Spitäler. Mit Hilfe der Kirche hoffte die Obrigkeit auch dem sittlichen Zerfall entgegenzutreten. Diese vielfältigen Aufgaben wurden am 29. Mai 1528 einem Chorgericht übertragen, welchem vorerst neben den beiden Münsterpfarrern Haller und Grossmann auch zwei Mitglieder des kleinen Rates und zwei, später vier Mitglieder des Grossen Rates angehörten. Erste Aufgabe dieser gemischten geistlich-weltlichen Behörde war die Regelung der Almosen (Armenfürsorge) und der kirchlichen Feiertage, galt es doch, die anfänglich noch 26 zusätzlichen Feiertage ausserhalb der Sonntage auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren. Man war sich offenbar bewusst, dass gerade diese vielen Feiertage dem Müssiggang und den lockeren Sitten förderlich waren. Es wurde aufgeräumt. Zum Schluss blieben noch vier zusätzliche Feiertage übrig, nämlich Weihnachten, Neujahr, Maria Verkündigung (25. März) und Christi Himmelfahrt (Auffahrt). 1832 kam noch der Eidgenössische Buss- und Bettag dazu, der aber schon fest auf einen Sonntag im September vorgesehen wurde. Es gab dadurch also keinen zusätzlichen Feiertag. 1860 wurde Maria Verkündigung als reformiert-kirchlicher Feiertag aufgehoben.

Zu den weiteren Aufgaben dieses ersten Chorgerichts gehörten die Pensionierung der dem alten Glauben treu gebliebenen Geistlichen und die Rückerstattung der Kirchenzierden. Als regelmässige Hauptarbeit ergab sich die Erledigung aller die Ehe oder das Eherecht betreffenden Vorfälle. Am 11. September 1528 wurden eigens dafür geschaffene Satzungen in Kraft gesetzt, am 8. März 1529 dann eine Ordnung des Chorgerichts. Den Gemeinden überliess die Regierung nicht nur die örtliche Selbstverwaltung mit Armenwesen, Vormundschaft und Schulen, sondern sie übertrug ihnen auch die Sittenpolizei. Am 8. März 1529 wurde in jeder Kirchgemeinde ein Chor- oder Ehegericht eingesetzt, dem neben dem Pfarrer mindestens zwei ehrbare, vom Landvogt ernannte Gemeindeglieder angehören sollten. Als die Mitarbeit der weltlichen Mitglieder da und dort nachlässig wurde, sah sich der Rat gezwungen, auf Wunsch der Pfarrer eine straffere Ordnung

einzuführen, wie Vereidigung der Mitglieder und die Zubilligung einiger Rechte wie die Möglichkeit, Widerspenstige der Obrigkeit zu verzeigen oder einen Fall dem Gericht des neuen Wohnortes zu übertragen, wenn sich jemand durch Wegzug der Strafe zu entziehen versuchte. Das will heissen, dass das erste Chorgericht in Bern nun zum Oberen Chorgericht wurde, an welches die Chorgerichte der Kirchgemeinden besondere Fälle weiterleiten konnten und welchem nun die Aufsicht über die Befolgung der Mandate zufiel. Solche Mandate (Verfügungen) wurden z.B. erlassen gegen das Spielen (um Geld und Gut), gegen das Schwören, das Zutrinken und Trunkenheit, gegen Kleiderpracht, Luxus, Wucher, Zank und Ehestreit, gegen Unbarmherzigkeit, Unglaube und Aberglaube, Zauberei, Fluchen und Gotteslästerei. Ein Mandat vom 7. September 1550 richtete sich gegen Spiel und Tanz, das sogenannte Meyenmandat, weil es jeweils immer am ersten Maisonntag von der Kanzel verlesen werden musste. Ein weiteres Mandat vom 3. Januar 1557 betraf die Unzucht mit Kindern und ein anderes vom 10. September 1559 war gegen das Tragen von Ringen gerichtet. Die letzte «Satzung und Ordnung des Chorgerichts» wurde 1787 erlassen. Die Chorgerichte der Kirchgemeinden hatten auch die Möglichkeit und das Recht, selbst Strafen auszufällen: Wer fluchte hatte vor dem Chorgericht (im Chor der Kirche) zu Boden zu fallen, der sogenannte «Herdfall». Im Weigerungsfall drohte Einsperrung, Busse, Abbitte vor versammelter Gemeinde in der Kirche, Pranger oder, wo ein solcher fehlte, neben die Kirchentüre stehen. Betrunkene konnten zu «24 Stunden Loch bei Wasser und Brot» verknurrt werden. Über die Tätigkeit der Chorgerichte hatte der Pfarrer Buch zu führen. Lengnau besitzt noch drei solche Manuale, das heisst handgeschriebene Protokollbücher von etwa 300 Seiten. Das älteste umfasst die Jahre 1681 bis 1703 und wurde somit von Pfarrer Niklaus Graaff geführt. Dieses Manual hat das Format 15 x 19,5 cm, der Einband ist mit Leder überzogen und mit Ledernesteln versehen, mit welchen das Buch «verschlossen» werden konnte. Das zweite vorhandene

Manual gelangte 1963 wieder in den Besitz der Kirchgemeinde Lengnau, nachdem es durch Erbschaft in die Hände einer Frau Hess-Matti in Utzenstorf gelangt war. Diese Frau hatte den Wert des Manuals erkannt und dafür gesorgt, dass es wieder dorthin kam, wo es hingehört. Dieses Buch umfasst die Jahre 1743 bis 1773 und enthält die Eintragungen von drei Pfarrherren, nämlich Johannes Mayer (1743 bis 1755), Jakob Tribollet (1756 bis 1761) und Samuel Sprünglin (1761 bis 1773). Das Format dieses Manuals ist zirka 17 x 21 cm und in der Ausführung wie das vorerwähnte. Bei dem dritten Exemplar dürfte es sich um das zweitletzte Manual handeln, denn es umfasst die Jahre 1805 bis 1828 und die Eintragungen stammen von den Pfarrherren Johann Rudolf Kuhn (1805 bis 1821) und Samuel Wytenbach (1822 bis 1828). Das Format ist zirka 18 X 21 cm. Der Einband besitzt einen Lederrücken und Lederecken, die Deckel aber sind mit braunem, bläulich marmoriertem Papier überzogen. Dieses Buch enthält verschiedene Eintragungen in französischer Sprache, zudem am Schluss ein einigermassen alphabetisch geordnetes Register. Entsprechend den Aufgaben des Chorgerichts sind auch die Eintragungen im Manual. Sie betreffen zur Hauptsache Ehehändel und Vaterschaftsklagen, Mandatsübertretungen aller Art und die wörtliche Wiedergabe von Schriftstücken, welche zwischen dem Chorgericht Lengnau und dem Oberen Chorgericht, dem Oberamt oder Chorgerichten anderer Kirchgemeinden gewechselt wurden. 1831, also nach über dreihundertjährigem Bestehen, wurden die Chorgerichte als solche aufgehoben, doch lebten sie mit weniger Kompetenzen als Sittengerichte weiter bis 1852. Mit der Annahme des «Gesetzes über die Organisation der evangelisch-reformierten Kirchensynode» traten an die Stelle der Chor- oder Sittengerichte die Kirchenvorstände. Damit wurden die Kirchgemeinden wirklich zur Besorgung ihrer eigenen Angelegenheiten eingesetzt. Die Kirchgemeindeversammlung, die durch sämtliche Bewohner der Kirchgemeinde, welche Glieder der evangelisch-reformierten Landeskirche waren und das bürgerliche Stimmrecht besassen, gebildet wurde, wählte vier bis zwölf Kirchenälteste auf vier Jahre. Die Kapitelbezirke wurden zu Bezirkssynoden, welchen sämtliche Pfarrherren des Bezirks und neu die von den Kirchenvorständen der Kirchgemeinden gewählten Abgeordneten angehörten. Präsident dieser neuen Bezirkssynoden war der Dekan (wie vorher im Kapitel). Lengnau stellte übrigens auch einmal einen Dekan in der Person von Pfarrer Emanuel Zehnder, von 1729 bis zu seinem Tode im Jahre 1741 Seelsorger in Lengnau. Aus der Generalsynode, wie sie seit 1832 bestand, wurde die Kantonssynode, deren personeller Bestand sich nun ebenfalls aus Pfarrherren und Abgeordneten der Bezirkssynode rekrutierte. Auf je sechs Prädikanten und sechs Gemeindeabgeordnete wurde ein Vertreter in die Kantonssynode gewählt. Die Kirchenordnung von 1852, mehr oder weniger ein Provisorium, wurde durch das Kirchengesetz von 1874 ersetzt. Dieses Gesetz bildet die Grundlage zu dem, was wir noch heute, hundert Jahre später, unter «Bernische evangelisch-reformierte Landeskirche» zu verstehen haben.

Am 18. Januar 1874 trat das neue Kirchengesetz in Kraft und am folgenden 28. November ist in Lengnau die erste, konstituierende Kirchgemeindeversammlung zusammen getreten. Den Vorsitz führte der damals amtierende Pfarrer Gerwer. Anwesend waren 44 Stimmberechtigte. Als erster Präsident der Kirchgemeinde wurde Pfarrer Gerwer gewählt, als Vizepräsident Johann Schlup, Schmied. Als erster Ratspräsident beliebte Johann Renfer, Grossrat. Ihm waren acht Ratsmitglieder beigegeben, nämlich Johann Schmied, Bäcker; Ed. Gilomen, Müller; Jos. Rüfli, Gerber; Joh. Schädeli, Käser; Jb. Bratschi, Lehrer; Jb. Rüfli, Sattler; Jb. Schaad, Zimmerhansens; Rud. Renfer, Uhrmacher, und als Kassier Friedrich Schaad, Wirt.

Schlussbemerkımgen zum Abschnitt Kirchgemeinde

Die Entwicklungsgeschichte, immer unter dem Einfluss der Obrigkeit, zeigt die grossen Wandlungen, welche sich im Laufe von immerhin 445 Jahren seit der Reformation vollzogen. Waren anfänglich Burgergemeinde und Kirchgemeinde personell und aufgabenmässig eng miteinander verbunden, so änderte sich im Laufe der Zeit vor allem der Aufgabenbereich. Der Burgergemeinde blieb noch die Verwaltung des Besitzes und alles, was die Burger betraf. Der Kirchgemeinde verblieben nur noch die rein kirchlichen Angelegenheiten. Alle anderen Aufgaben gingen entweder an den Staat oder an die Einwohnergemeinde über. Hatte der Pfarrer früher die Chorgerichtsmanuale und die damit verbundene Korrespondenz zu führen, ferner die Geburts-, Ehe- und Totenrödel nachzutragen, die Schulen zu beaufsichtigen, als Prediger und Seelsorger zu wirken usw., so wurde seine Aufgabe auf die Seelsorge, die Predigt und den kirchlichen Unterricht konzentriert. Mit der Errichtung der Zivilstandsämter im Jahre 1876 gingen die Rödel in den Besitz des Staates über, das heisst in die Hände der Zivilstandsbeamten.

Die Kirchgemeinde untersteht in ihren Rechten und Pflichten den in der Staats-Verfassung, im Kirchengesetz und in den dazugehörenden Ausführungsbestimmungen niedergelegten Vorschriften. Intern gelten die Bestimmungen des Reglements für die Kirchgemeinde Lengnau, welche nach der Volkszählung von 1970 total 3623 Personen umfasst.

Unsere katholischen Gemeindeglieder bilden zwar auch eine Gemeinde, doch umfasst diese alle Katholiken der Gemeinden Pieterlen, Lengnau und Meinisberg. Seit dem 1. Januar 1972 besteht eine selbständige Pfarrei, welche von Pfarrer Joseph Emmenegger in Pieterlen betreut wird. In Lengnau werden die Gottesdienste seit einigen Jahren in der Kantine der Fabrik Enicar abgehalten, früher in einem Schulzimmer; doch hat die römisch-katholische Kirchgemeinde an der Schiblistrasse ein Stück Land für einen Kirchenbau reserviert. Dieser Neubau ist gegenwärtig im Projektierungsstadium.