Der Brand von Rüti am 20. Mai 1868
Das Dorf Rüti b. B. finden wir an der Bahnlinie Lyss-Solothurn als erste Ortschaft nach dem Städtchen Büren aareabwärts.
Es wird von Jahn und andern für die Mitte des letzten Jahrhunderts als Bauerndorf geschildert, angelehnt an den Nordabhang des Bucheggberges, an welchem es nach Süden sanft in die Höhe steigt. Die braunen Holzhäuser, welche fast alle der Landwirtschaft dienten oder zugehörigen Gewerben, standen zwischen fruchtbaren Obstbäumen oder mächtigen Nussbäumen. Es gab da zwei Käsereien, zwei Huf- und Wagenschmieden, einen Wagner und im Schulhäuschen zwei Schulklassen, was alles für ein recht beachtliches Dorf zeugt.Mitten durch die Ortschaft floss wie heute von Süd nach Nord der wasserreiche Rütibach, welcher zwei Getreidemühlen und eine Sägemühle trieb.
Im Jahre 1850 wies das Dorf 641 Einwohner auf. Dem vorüberziehenden Wanderer sowohl als dem vorüberschiffenden Fahrgast auf der Aare bot das Dorf Rüti damals einen Lieblichen Anblick ländlichen Friedens.
Aus diesem ländlichen Frieden wurde die emsig auf den Feldern arbeitende Bevölkerung am Vormittag des 20.Mai 1868 jäh herausgerissen. Es war kurz vor 11 Uhr und jedermann streckte fleissiger den müden Rücken, um dann mit neuem Mut die für den Vormittag bestimmte Arbeit zu beenden. Bald schon Würde man heimkehren und sich an den Mittagstisch setzen. Da begann plötzlich von der Kirche her die Sturmglocke ihr grausig Lied über die Felder zu brüllen.«Fürio!» Schaurig klang der Ruf durch die Gassen. «Es brennt! Es brennt» Wer zu Fuss war, warf das Werkzeug in die Furche und rannte querfeldein dem Dorfe zu, dem gefährdeten Heim entgegen.
Auf allen Wegen zugeten Fuhrwerke, hasteten Männer, die Spritze zu holen, dem Feuer so rasch als möglich zu wehren, zu retten, was dem gefrässigen Elemente entrissen werden konnte.Ganz zuerst sah es nicht anders aus als bei früheren Bränden. Es schien durchaus möglich, des Feuers Herr zu werden. Nur bei einem einzigen Gebäude, der obern Schmiede an der Herrengasse, - der Strasse von Rüti nach Oberwil, - schlugen die Lohen über dem Dache zusammen, qualmte dichter Rauch gen Himmel.
Infolge anhaltender Trockenheit war allerdings das Strohdach klingeldürr und bot den fressenden Flammen willkommene Nahrung. Hochauf wirbelte alsbald in feurigen Garben das brennende Stroh, von der Bise gepeitscht, in die Weite gerissen, um wahllos auf einem andern Dach den zündenden Brand zu verbreiten.Endlich kam die Spritze! Am Bach war in aller Hast das Wasser gestaut worden. Energisch sammelte ein beherzter Mann die mit ihren Feuereimern herbei eilenden Dörfler, die Eimerkette vom Bach zur Spritze zu bilden. Bald einmal fiel Platsch das Wasser in den Spritzenkasten, von wo es durch die schwitzende Druckmannschaft in die damals wahrscheinlich noch ledernen Schläuche gepumpt wurde. Weder grad viel battete das eifrige Bemühen nicht, gab wie die Mannen anwendeten.
Die Schmiede loderte, Balken stürzten, Sparrenwerk krachte funkensprühend zur Erde. und im Rücken der sich abquälenden Mannschaft schwang sich der rote Hahn auf die nächste First. unvorstellbar wurde das Durcheinander in den dörflichen Gassen. Allerorten wurde Lebware aus den Ställen getrieben. Ziegen beinelten meckernd davon, quitschende Schweine strebten zurück in die brennenden Ställe, Hühner und Gänse vermehrten den Wirbel, in welchem kopflos herumirrende, verängstigte Dorfbewohner mit jenen die Wege kreuzten, welche zu Hilfe eilten ihren Nachbarn. Grössere Kinder keuchten atemlos herum, ihre Geschwister zu suchen, welche irgendwo ganz verschmeiet dem niegesehenen Weltuntergang zuschauten, den vermissten Grossätti, die irgendwo haltlos weinende Grossmutter in Sicherheit zu bringen.
Das zuerst nur im südlichen Dorfteil wütende Feuer drang, kleinste Hüttlein, vergessene Speicher und Ofenhäuschen als Sprungbrett benützend, unaufhaltsam nach Norden vor, immer neue Wohnstätten zu vernichten. Da es im ganzen Dorfe nur sechs Wohnhäuser gab, welche mit Ziegeln bedeckt waren, fanden die gierigen Flammen keinen ernstlichen Widerstand mehr. Alle andem trugen Strohdächer, vereinzelte möglicherweise Schindeln, denn der Bericht des späteren zentralen Hilfskomitees spricht irgendwo von durch die Luft wirbelnden brennenden Schindeln.
Dankbaren Blickes nahmen die geängstigten Dorfbewohner die Ankunft der ersten zu Hilfe eilenden Spritzen der Nachbardörfer wahr. Rasselnd und kesselnd, mitschnaubenden Rossen, sprengten diese daher, am Bache eine Stelle zu suchen, wo die schier unerträgliche Hitze etwas geringer war und die Aufstellung der Pumpe erlaubte. Immer fernere Orte entsandten ihre Hilfsmannschaften, aber auch immer unabsehbarer wurde die Katastrophe. Bis auf 4 Stunden Entfernung eilten die Spritzen daher. Ein Beobachter zählte allein am Ufer des Rütibaches im ganzen 35 Spritzen. Die Brandstätte umfasste zuletzt fast das ganze Dorf, wies eine Längevon 10-15 Gehminuten auf und eine Breite von etwa 5 Minuten. Über diesem Gebiet raste ein wogendes Feuermeer in ungeheuren Feuerwellen umher, die helfenden Menschen in fast nicht ertragbare Hitze hüllend. Den Schwitzenden musste Tranksame gebracht, stärkende Nahrung zugetragen werden.
Die Kunde vom verheerenden Brand in Rüti drang auch bis Biel, wo man überdies den geröteten Himmel bemerkte und die ungeheure Rauchsäule wahrnahm. Das gesamte Brandkorps versammelte sich denn auch unverzüglich und machte sich zum Ausrücken bereit. Bloss die Frage blieb noch abzuklären, ob eine Hilfeleistung überhaupt gewünscht werde. Telephon gab es allerdings damals noch keines, hingegen eine Telegraphenlinie, an welcher das Dorf Rüti angeschlossen war.
Die verantwortlichen Behörden von Biel liessen unverzüglich eine telegraphische Anfrage nach Rüti abgehen, ob eine sofortige Hilfe erwünscht und nötig sei. Im Kampfesgetümmel unterblieb aber die Beantwortung, so dass in Biel die ganze Mannschaft wieder entlassen werden musste.Am spätern Nachmittag stellte das vor wenigen Stunden noch so idyllische Dorf nur noch einen rauchenden Trümmerhaufen dar. Bis auf die Grundmauern waren die meisten Gebäude niedergebrannt. Trostlos streckten die angebrannten Bäume ihre schwarzen Armstummel gen Himmel. Zwischen den schwelenden Überbleibseln irrten trostlos die Menschen, stocherten in Asche und Glut, suchend, ob etwas verschont geblieben, nachträglich noch gerettet werden könne.
Die Gemeindemannen schritten mit Papier und Blei durch das Ruinenfeld, einen ersten Überblick zu gewinnen, den Umfang des fast unvorstellbaren Schadens versuchsweise abzuschätzen. Wir stellen uns vor, dass sie sich nach getanem Werk bei der verschonten Kirche trafen, rapportierend die einzelnen Gruppen, zusammenfassend der Gemeindeschreiber. Seiner provisorischen Statistik war zu entnehmen, dass 53 grössere und kleinere Firsten, darunter 38 Wohngebäude, den Flammen zu Opfer gefallen waren. 58 Familien mit 265 Personen schienen obdachlos geworden zu sein, alles verloren zu haben, was sie im Augenblick des Brandausbruches nicht auf dem Leibe getragen hatten. Wie und wo alle diese Leute untergebracht wurden, entzieht sich unserer Kenntnis.
Es mangelt aber nicht viel Phantasie, um sich die ersten Vorkehren der Behörden, vielleicht im Zusammenhang mit der intakten Kirche, vorzustellen.Zum Glück bildete die sofortige Verpflegung der Bedürftigen kein ernsthaftes Problem. Schon am Tage des Brandes rollten ganze Wagenladungen von Lebensmitteln, namentlich Brot und Kartoffeln, in das verwüstete Dorf. Dieser Strom von Liebesgaben hielt auch die nächsten Tage, ja Wochen und Monate an. Und gerade da zeigte sich ein Problem, dem die ländlichen Behörden auf keinen Fall gewachsen waren. Jede Gabe, was auch gebracht wurde, musste offiziell übernommen und eingelagert werden; eine Quittung, ein Dankschreiben wurde fällig und jeder Eingang musste unverzüglich in ein Verzeichnis eingetragen werden. Ganz am Anfang, in den ersten Stunden, funktionierte der Gemeinderat als Sammelstelle, doch zeigte sich schon am Abend des Brandes, dass diese Aufgabe niemals den Gemeindebehörden überbunden werden konnte.
Wir zitieren hier aus dem schriftlichen Schlussbericht des zentralen Hilfskomitees jene Stelle, welche sich mit diesem Punkt befasst:«Da Niemand hinlängliche Kenntnisse hatte, wie die Sache in solchen Fällen anzugreifen sei, so traten ernstliche Sorgen und Fragen sofort beim ersten Eintreffen von Steuern (= Liebesgaben) an die Gemeindebehörde 'van Rüthi heran, wem die grosse, Zeit raubende, mit Mühe und aller Art Unannehmlichkeiten 'verbundene Aufgabe, die aus diesem Unglüeke nicht nur für Wochen, sondern für lange Zeit erwachsen wird, übertragen werden könne. Es war diess für Rüthi keine leichte Sache, namentlich wenn man die engeren Verhältnisse in dieser Gemeinde, sowohl mit Bezug des Gemeindewesens der Einwohner unter sich, als auch in Betreff der Politik - zumal dieselben vonstetem gegenseitigem Misstrauen nicht frei waren - kennt.
Der Einwohnergemeinderat 'von Rüthi' erklärte daher, mit Rücksicht auf die angeführten Verhältnisse, die Grösse des Unglücks, die Mannigfaltigkeit der auftauchenden Fragen und seine Unerfahrenheit in Handlungen, wie Sie im 'vorliegendenFalle an ein Hülfskomite herantreten werden, dass er sich nicht damit befassen werde und nicht befassen könne.»
Wie die grosse Sammeltätigkeit und die geregelte Verteilung der Gaben durchgeführt wurden, darüber soll im nächsten Kapitel berichtet werden.