Die Fratzen an den Brückenpfeilern von Aarberg
Am Kreuzungspunkt alter Handelsstrassen gelegen, sah Aarberg im Verlauf der Jahrhunderte einen nur nachts abbrechenden, sonst von einer Tagheiteri zur andern dahin rumpelnden Zug von Fuhrwerken durch seine Mauern ziehen. Bis zu hundert Blachen gedeckte Fuhrwerke kamen vorbei, von denen 30 - 40 hier Nachtquartiermachten. Da wimmelte es dann sauf dem abendlichen Stadtplatz von schweren Zugrossen und leichten Kutschenpferden, behäbigen Handelsherren und fluchenden Fuhrknechten, bis alles ein Glieger gefunden, die Tiere gehabert waren und die Menschen ihre Beine unter einen Tisch gestreckt hatten. Das mag zeitweise ein fremdländisch, romantisch Treiben gewesen sein auf dem heute von der Blechschlange beherrschten Pflaster.
Wir bleiben in der Nähe des Schlosses einen Augenblick stehen und versuchen, uns ein Bild zu machen vom Leben dazumal, vom Hüsten und Hotten, vom Parlieren in allen Sprachen, vom Wiehern, Scharren und Stampfen der Rosse. Hast, Eile, Hetze sassen noch niemandem in den Knochen. Man hatte Zeit und nahm sich Zeit und das Überqueren des Platzes war noch keine nach genauen Regeln geordnete, fast lebensgefährliche Angelegenheit, bei welcher ein Tritt nebenaus polizeiliche Bussen und gesundheitliche Gefährdung bedeutete.
Genau rechts vor dem Eingang zur Brücke, unmittelbar neben dem Restaurant zur Brücke, entdecken wir eine schmale, steile Treppe, die uns hinunterführt in das ehemalige Flussbett der Aare, deren breiter Lauf das Städtchen unmittelbar auf der Nordseite umrundete. Heute fehlt das Wasser! Die Aare wurde vor mehr als hundert Jahren, nämlich 1878, im Zuge der ersten Juragewässerkorrektion direkt nach Norden in den Bielersee geleitet. Was heute noch im alten Bette sich räkelt, ist nicht mehr die teufelssüchtige, wilde Frau Aare, sondern ein serblig Weselein, ärmer als ein hilfloser Säugling.
Wir befinden uns jetzt direkt unter der alten Holzbrücke, welche über steinerne Pfeiler den ruhelosen Verkehr des Jahres 1973 vom Städtchen hinüberhebt in die Gegend der Spar- und Leihkasse und eilends entlässt Richtung Waadtland und Léman. Sie stehen schon mächtig da, diese steinernen Kolosse, strahlen Kraft aus und Sicherheit, als sei es ihnen ernst beim Vorhaben, die wilde Jagd der Benzinschlange noch jahrhuntertelang über sich hinwegbrausen zu lassen.
Ehemals stand die Brücke auf weniger hoffärtigen Füssen aus Holz. Jedes Hochwasser riss an den Jochen. Entwurzelte Bäume, Teile von zerstörten menschlichen Behausungen, tote Tiere, riesige Eisschollen rammten die Pfosten, bis unversehens der Anschlag Erfolg hatte und ein besonders wilder Tanz Brücke und Pfeiler hinwegriss und eilends entführte. Schon im Jahre 1414 war das Städtchen nicht mehr in der Lage, die weggerissene Brücke wieder aufzubauen. Der Brückenunterhalt war eine nicht länger zumutbare Last geworden, ganz besonders, weil eben zwei Brücken zu unterhalten waren, je eine auf der Ost- und Westseite. So wurden denn die Brücken an Bern abgetreten, welches vermutlich den Wiederaufbau energisch in die Hände nahm, da für das Passieren von Brücken damals bekanntlich Zoll bezahlt werden musste. Doch gerad übermässige Sorgfalt scheint niemand angewendet zu haben damals, musste doch das Bauwerk schon 1443 wieder als baufällig bezeichnet werden. Die nächste Brücke leistete ihren Dienst ebenfalls wieder ungefähr vierzig Jahre. Aber diesmal ging’s mit dem Wiederaufbau eher noch langsamer als selbst mit dem neuesten Berner Marsch. Rund ein Jahrzehnt wurde ds Nüni gezogen, hin und her verhandelt und gfätterlet, bis endlich um 1490 der Neubau stand. Diesmal dauerte der ungleiche Kampf der Wassergeister gegen das hölzerne Menschenwerk über ein halbes Jahrhundert. Dann allerdings wurde er von den Naturgewaltengrad auf beiden Kampfplätzen gewonnen: Im Jahre 1556 wurden beide Brücken weggerissen.
Damit war das Städtchen vom Verkehr gänzlich abgeschnitten, der Blutkreislauf unterbrochen. Da musste rasch geholfen werden! Kein Jahrzehnt später riss nach langem Regenwetter ein Hochwasser um die Weihnachtszeit die grosse Brücke wieder weg. Jetzt endlich wurde man in Bern Sinns, andere, schärfere Massnahmen zu ergreifen. Statt der hölzernen Pfeiler seien steinerne zu erstellen, was in den Jahren 1567 - 1568 geschah. Die Steine dazu wurden in einem Steinbruch bei Baggwil gewonnen und aus ihnen die Pfeiler gebaut, welche die Brücke noch heute tragen.
Wie alles, was Bestand haben muss, so waren auch diese steinernen Pfeiler nicht nur währschaft und heblig, sondern auch für das Auge wohlgefällig. Stromaufwärts und stromabwärts wurden am obern Ende der Pfeiler Fratzen herausgehauen, zierliche Menschen- (oder doch menschenähnliche) Köpfe, angeblich Wassergeister darstellend. Man kann sie an jedem Pfeiler entdecken, wenn man sich die paar Minuten Zeit dazu nimmt.
Mir hat die Auffassung, dass diese Fratzen Wassergeister darstellen sollten, immer beachtliche Mühe bereitet. Wo finden wir sie nämlich ? Auf den Pfeilern, welche während jedem Hochwasser der Gefahr ausgesetzt waren, weggerissen zu werden. Wer die abergläubischen Auffassungen unserer Vorfahren etwas kennt, dem ist klar, dass zu jener Zeit sicher alle Anstalten getroffen wurden auch die Dienste überirdischer Mächte in Anspruch genommen, um die Gefahren zu bannen. Der Gewalt der zerstörerischen Wassergeister musste eine ebenso kraftvolle Abwehr entgegengestellt werden, verkörpert durch die steinernen Fratzen an den Pfeilern. Sie sind also das Gegenteil der Wassergeister und dienten der Abwehr der im Hochwasser vorhandenen feindlichen Kräfte.