Der Oltigenmätteler

Vor guten hundert Jahren lebten in der Oltigenmatt nacheinander zwei Wunderdoktoren, Schwiegervater und Schwiegersohn, deren Namen weit über das Seeland hinaus allen Leuten geläufig waren. Ihr Heimwesen im Halte von 33 Jucharten befand sich nahe beim Zusammenfluss von Aare und Saane auf dem linken Ufer.

Beide waren sie geschickte, wärchige Bauern, der Schwiegervater, der alte Neuenschwander, zudem ein viel aufgesuchter Wasserdoktor und Heilkundiger.

Als des Alten Kräfte nachliessen und er das Ende seiner Tage herannahen fühlte, da holte er seine geheimen Doktorbücher aus dem stets verschlossenen Trog hervor und begann, sein Wissen und seine Einsichten vor dem Schwiegersohn Hans Johner auszubreiten. Wir wissen nicht, Welchen Umfang das naturheilkundliche Erbe etwa hatte. Nur aus Kräuterbüchern, die da und dort auszugsweise veröffentlicht wurden, bis zum rühmlichst bekannten «Chrut und Uchrut» des längst verstorbenen Kräuterpfarrers, können wir schliessen, dass es ein Fehler wäre, das Ganze etwa gering anzuschlagen.

 Eine lange Lehrzeit war dem jungen Hans Johner nicht beschieden. Der Tod des Schwiegervaters, der Wohnort in der Oltigenmatt und das überhaupt nicht abreissende Geläufe der Bresthaften zwängten ihn in die Rolle des Wasserschauers, ob er wollte oder nicht. Doch bald einmal erwies sich, dass seine Heilkunst weit über das hinausging. was dem alten Neuenschwander möglich gewesen war. Seine Einsichten in die natürlichen Heilkräfte der Pflanzen und seine überdurchschnittliche Menschenkenntnis machten ihn rasch zum «Chumm mer z'Hilf» für alle Leidenden zehn Stunden im Umkreis. Nicht nur der Wille zum Helfen, sondern auch die Einsicht, wie leicht so ein geschätzter Wasserdoktor zu barem Geld kommen könne,trieben ständig zum Erweitern des Wissens.

Mit Kräutersammeln und Wurzehıgraben verlor er durchaus keine Zeit. Das hätte sich zu schlecht ausbezahlt. Jeden Dienstag fuhr er mit dem Reitwägeli nach Bern, nicht wie die übrigen Bauern, um sich über Kauf und Lauf zu orientieren, sondern vor allem, um in einer Drogerie alle die Kräuter, Beeren und Wurzeln zu kaufen,gelegentlich Wohl auch noch andere Ingredienzen, welche für seine Heilmittel nötig waren, Seine Mädchen mussten andeıntags daraus gar manches heilsame Tränklein kochen, Pulver mörsern und kräftige Salben mischen.

Der Ruf des Wasserdoktors in der Oltigenmatt nahm ständig zu. Der Übername «Oltigenmätteler» erhielt Zauberkraft und ging in seiner propagandistischen Wirkung weit über Doktorhut und Professorentitel hinaus. Von allen Seiten zugeten die Hilfesuchenden herbei, über das Fahr von Marfeldingen-Wileroltigen und dasjenige von Oltigen, von Bern her und vom Moos, aus dem Murtenbiet und dem Schwarzenburgischen. Jeder trug das Gütterli bei sich mit dem Morgenwasser, aus dem der Oltigenmattbauer die nötigen Hinweise für das passende Heilmittel entnehmen sollte. Häufig schon um fünf Uhr morgens trappeten die ersten Kranken zum Haus, hoffend, rasch an die Reihe genommen zu werden und nicht so lange warten zu müssen. Aber wie auch der Wasserdoktor jufelte, Ratschläge erteilte, Salben und Tränklein ferschrieb, die Schar der Wartenden wollte bis zur fallenden Nacht nicht schwinden.

Im Jahre 1884 heiratete eine seiner Töchter und übernahm mit ihrem Gatten den Hof. Jetzt bekam der Oltigenmätteler endlich etwas Luft. Er liess einen Stock bauen als Doktorhaus und widmete sich hinfort nur noch der Heilkunde. Dazu gehörte aber schon zu jener Zeit ein Patent und das fehlte ihm. Kein Wunder, dass ihm die patentierten Ärzte sein Süpplein jedes Jahr mit einer Anzeige versalzten wegen wiederrechtlicher Ausübung der Heilkunst, oder wie die Formulierung etwa gelautet haben mag. Finanziell war das sicher zu ertragen und eine bessere Reklame hätte kein versiertes Büro des Jahres 1978 ersinnen können. Aber ärgerlich war es trotzdem, sehr ärgerlich! Doch das Schicksal hatte noch mehr bittere Tropfen in den Becher fallen lassen. Tausenden konnte Hans Johner helfen, sich selber und seiner Familie aber nicht. Sobald er oder eines seiner Angehörigen leidend war, musste der Arzt Dr. Nanni in Buch bei Allenlüften aufgesucht oder geholt werden. Die beiden so ungleichen Heílkundigen haben sich übrigens recht gut miteinander vertragen und scheinen durchaus nicht im Unfrieden gelebt zu haben.


Wie zu jener Zeit üblich, zählte die Familie des Wasserdoktors rund ein Dutzend Kinder, nämlich 7 Mädchen und 4 Buben. Die meisten davon sind vor ihm gestorben, ohne dass er ihnen in ihrer Krankheit hätte helfen können. Einmal lagen am gleichen Tage zwei seiner Buben tot im Haus, der eine war vom Ross gestürzt, der andere in der Aare ertrunken.


So lange der Oltigenmätteler lebte, hatten die Wirte in der Ründi und die Fährleute von Oltigen und Wileroltigen goldene Zeiten. Das änderte fast schlagartig mit dem plötzlichen Tode des berühmten Mannes. Es liegt eine eigene Tragik über diesem Ende, das wohl hundert andern, aber doch nicht einem Naturheilarzt hätte zustossen dürfen. Zur Kirschenzeit ass der «Doktor» wie tausend andere Menschen von den herrlichen Früchten. Die Sonne brannte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Ein heftiger Durst fing an, den Mann zu plagen. Ohne Überlegung griff er zum Bier und trank, wie man nur Bier trinken kann, in hastigen, grossen Schlucken. Nach einiger Zeit überfielen ihn heftige Krämpfe. Helfen, sich selber helfen, konnte er nicht mehr, nach kurzer Zeit war er ein stiller, toter Mann.


Stille wurde es auch um die Oltigenmatt. Der Strom der Heilungsuchenden versiegte. Mit dem Kallnachwerk und der daherigen Stauung der Aare bei Niederried wurde ein grosser Teil des Landes unter Wasser gesetzt. In letzter Zeit ist auch noch das Grabmal auf dem Friedhof von Golaten weggeräumt worden. Jetzt leben nur noch ein paar Müsterchen weiter, die ganz alte Leute zu erzählen wissen. Alles andere ist dahin, spurlos dahin!

 

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