Vom Leben im überschwemmten Seeland
Auf dem Schwemmkegel der Aare gibt es eine Reihe von Dörfern direkt in der Ebene. Trotz sorgfältiger Auswahl erhöhter Siedlungsplätze gerieten sie im Lauf der Jahrhunderte immer mehr in den Bereich der Überschwemmungen. In dieser Lage befanden sich Kappelen, Werdthof, Worben, Studen, Aegerten, Schwadernau, Scheuren und Meienried.
Die grosse Mehrzahl der seeländischen Orte aber wurde am Rande der Ebene, mehr oder weniger erhöht, gegründet. Die Tendenz nach einer möglichst niederen und trotzdem Wassergeschützten Lage lässt sich überall nachweisen, am schönsten wohl bei Busswil, Büetigen und Dotzigen. Wie an einem Seearm liegen sie alle drei, die Wohnhäuser einigermassen geschützt, das Land zur Hauptsache in der Ebene, den Verheerungen der Aare ausgesetzt.
Die Dörfer in der Ebene wurden von jeder Wassergrösse erreicht. Unaufhaltsam quollen die Wasser ins Dorf hinein, füllten Keller und Sodbrunnen, verwüsteten Äcker und Wiesen, Gärten und Pflanzplätze. Gewöhnlich im Frühling, wenn der viele Schnee rasch schmolz, trat die Aare unterhalb Aarberg über die Ufer und überschwemmte einen grossen Teil des Landes von Kappelen, Worben, Lyss, Busswil, Büetigen, Dotzigen bis hinüber nach Studen, Aegerten und Schwadernau. Hatten sich die Wasser nach und nach verzogen, liessen sie nicht etwa fruchtbaren Nilschlamm zurück, sondern Sand und Kies.
Manchmal überflutete die Aare, - so ist bei Oppliger über das Dorf Lyss zu lesen, - mitten in der Erntezeit alle Kartoffel- und Getreideäcker, so dass die Ernte vollständig vernichtet wurde. Ein alter Mann erzählte, dass sie manchmal mit einem Weidling über die schönsten Ährenfelder fuhren. Sie mochten mit dem Ruder die Ähren nicht erreichen.
Wenn die Aare bei Aarberg ausbrach, kam es gewöhnlich zu einer grossen Überschwemmung.Dann machten die Bauern grosse Haufen von Garben, rammten darum herum Pfähle ein undbanden lange Seile um die Haufen, damit die Aare die Frucht nicht fortreisse. Manchmalwurde sie trotzdem fortgerissen.In Hutmachers Chronik von Büren a.A. lesen wir über das Jahr 1584: «Dieses Jahr habe vielezornige und mühsälige Wätter bracht. Um Pfingsten sei die Aare allenthalben übergloffenund zu Reiben in die Hüser abglüffen. Darnach uff Donstag, den 9. Juli kam sie von neuem, vielgrösser denn vorher, Fälder, Matten und Kornzälgen seien von ihr überzogen worden. DasKorn sei uff den halben Teil am Halm, etliche bis an die Ähri im Wasser gstanden. In Arch habe die Aare viel Garben hinwäg gführt.»
Da in unserem Dorfe zu jener Zeit vermutlich nur recht wenige Bewohner der Feder wirklich mächtig waren, sind praktisch keine Schilderungen der schweren Not aufzutreiben. Wir sind deshalb auf Berichte und Müsterchen aus der nächsten Nachbarschaft, nämlich aus Lyss, angewiesen. Der Grossvater einer Schülerin, - so erzählt Oppliger, - brachte als Knabe seiner Grossmutter in Unterworben mit dem Weidling das Essen. Er konnte sein Schiff oben an der Treppe anbinden, denn das Wasser kam 2 Meter am Haus empor.Einmal stieg die Aare derart rasch über die Ufer, dass der Fährmann flüchten musste. Als das Wasser sich verlaufen hatte, fand er ganz erstaunt in der Küche seine Ziege und den Hund.
Ein andermal konnte er nicht mehr fliehen und stieg auf das Dach das Fährhüttleins. Das Wasser kam ihm trotzdem bis unter die Arme. So habe er neun Stunden ausharren müssen. Grosse Armut herrschte infolge dieser Zustände in den unsauberen, russigen Strohhütten. Einzig die sorglose Jugend spürte wenigvon den Schrecken der Überschwemmungen. Sie kannte ja nichts anderes. Näherte sich das Wasser dem Dorfe, dann wurde die Misthurd oder ein primitives Floss flottgemacht und fröhlich ins Weite gerudert.
An eine richtige Bebauung des Überschwemmungslandes war nicht zu denken. Man nahm im Herbst, was die Natur etwa an schlechtem Futter hervorbringen mochte. Die vom Brästen angefallenen Kartoffeln wurden ins Tennli gebracht und statt erlesen und eingekellert, zu «Härdöpfler», Kartoffelbranntwein, verarbeitet. Das habe wenigstens jene kleine Rösti ergeben, welche von der Fäulnis nicht mehr bedroht war. Dass bei der Schnapsfabrikation auch Getreide gebraucht werden musste und dadurch die ohnehin spärliche Nahrung noch vermindert wurde, scheint den Leuten nicht aufgefallen zu sein. Als der Chronist vor einem halben Jahrhundert ins Dorf kam, wurde immer noch im Versteckten «Karstzinggensyrup» gebrannt.
Ein Ofenkachelspruch in Diessbach weiss zu verkünden:«Die Erdäpfel so erkrankt in diesem Jahr. dass Schrecken und Jammer im ganzen Lande war. 1845.»