Das römische Erbe
Um die Frage des vorrömischen, römischen oder nachrömischen Ursprungs der Gewannflur zu klären, haben wir die Methode der Messung an einem Raster der römischen Limitation entwickelt. Es geht dabei um folgendes: Von römischen Theoretikern der Feldmessung ist bekannt, dass bei der Anlage von Kolonien das Land in quadratische Felder von 2400 Fuss (= 710 m) Seitenlänge eingeteilt wurde. Diese Felder, die 100 kleinere Einheiten umfassten, hiessen Zenturien, der ganze Vorgang wurde als Limitation bezeichnet. Die neuere Forschung hat insbesondere auch durch grossräumige Auswertung von Luftbildern erkannt, dass die Limitation, vor allem auch in der römischen Kaiserzeit, tatsächlich geübt wurde, und zwar nicht nur lokal um einzelne Koloniestädte, sondern grossräumig, über ganze Teile von Provinzen. Auch für die Westschweiz ist es uns gelungen, in Gemeindegrenzen, Wegabschnitten und gewissen historischen Grenzen, wie Zehntgrenzen, den Raster römischer Limitation wahrscheinlich zu machen (Lit. 9). Dabei scheinen sich Raster verschiedener Orientierung bisweilen zu überlagern, was aufgrund der römischen Feldmesser-Literatur durchaus möglich ist, indem die mehrmalige «Renormierung», das heisst Neuabsteckung über älterer Limitation, ausdrücklich bezeugt ist. Bisweilen muss die Seitenlänge der Quadrate auch zu 740 m angenommen werden, was einer halben römischen Meile entspricht. Die Limitationen sollten nach der aufgehenden Sonne orientiert werden. Es treten uns nun in der Westschweiz vorwiegend drei verschieden orientierte Systeme entgegen, die sich alle zum Stadtplan des römischen Aventicum in Beziehung setzen lassen.
1. Ein System von 69-72g Abweichung von geographisch Nord, was dem Sonnenaufgang eines Tages gegen Ende Mai entspricht. Dieses System entwickelt sich vonwiegend östlich von Aventicum bis gegen Olten.
2. Ein System von 60g Abweichung von geographisch Nord, was dem Sonnenaufgang des längsten Tages entspricht. Dieses System verbreitet sich südlich des Neuenburger- und des Bielersees.
3. Ein System von 43-45g Abweichung von geographisch Nord. Wahrscheinlich ist dieses System, das sich südwestlich von Aventicum erstreckt, nicht nach Nordosten, sondern im rechten Winkel nach Südosten orientiert und entspricht damit, unter Berücksichtigung der Erhebung des natürlichen Horizontes von Aventicum, dem Sonnenaufgang der Wintersonnenwende. Der Cigognier-Tempel in Aventicum weist die Achse von 143g auf (alle Winkelangaben erfolgen in der 100g-Teilung des rechten Winkels)
Eine weitere Richtung – 85g Abweichung von Nord - kommt recht häufig lokal vor und ist hier nicht zu berücksichtigen. Zahlreiche alte Kirchen weisen die typischen Orientierungen römischer Limitationsnetze auf. Zum Teil stehen diese Kirchen unmittelbar auf den Ruinen römischer Villen, zum Teil dürften sie ihre Orientierung von den noch nachlebenden Wegen und Feldgrenzen übernommen haben. Zu diesen Kirchen gehören auch alle alten Pfarrkirchen im obern Bielerseegebiet: Erlach, Vinelz und Siselen 72g, lns, Täuffelen und Walperswil 60g.
Ein beachtliches Anzeichen für das Nachleben römischer Limitation ist in der Westschweiz das verhältnismässig häufige Auftreten von mehr oder weniger regelmässigen rechteckförmigen Gemeindearealen, die 6, seltener 4 oder 8 römischen Zenturieneinheiten entsprechen, wobei das Dorf oft an einem der Schnittpunkte der internen Zenturienteilung liegt. Zu diesen Dörfern gehört auch Treiten. Es lässt sich das Areal von Treiten, wie es um 1500 bestand, mit Weg- und Grenzabschnitten im Raum Lüscherz-Täuffelen-Walperswil in einen Quadratraster von 740 m der 60g-Orientierung einpassen. Die getönten Umrandungen von Sechs zenturienarealen sind rein hypothetisch, um erkennen zu lassen, in welchem Masse heutige Dörfer aus Mittelpunkten römischer Gutsbetriebe zu 6 Zenturien hervorgegangen sein könnten und wie die bekannten römischen Villenplätze in diesen Raster passen. Gegenüber Gebieten weiter westlich ist die Uebereinstimmung verhältnismässig schwach, was allgemein auf einen grössern Unterbruch zwischen römischer Zeit und Mittelalter schliessen liesse, auch wenn das römische Substrat erkenntlich ist.
lm Gebiet von Erlach und Vinelz scheint der Zenturienraster mit der Orientierung von 72g zu dominieren, der aber, abgesehen von den Kirchen Erlach und Vinelz und den Feldern östlich des Dorfes Vinelz, wenig Übereinstimmungen zeigt (Abb. 133). lm Korridor zwischen den Wäldern zwischen Ins und Vinelz scheint sogar die 43g-Richtung hervorzutreten. Die verschiedenen Limitationen scheinen zwar zeitlich nacheinander angelegt worden zu sein, aber so, dass Reste früherer Einteilungen noch als Einsprengsel fortbestanden. So scheinen die meisten heutigen Gemeinden aus Bestandteilen verschiedener früherer Siedlungen und Fluren zusammengewachsen zu sein.