Die Gewannflur

lm Mittelpunkt des Interesses stand seit Beginn der Flurforschung ein Feldsystem, das in Süd- und Westdeutschland, Ober- und Niederösterreich, im schweizerischen Mittelland, in Zentral- und Ostfrankreich, früher auch in Norddeutschland, den Niederlanden, Südengland, Dänemark und Südschweden verbreitet war. In Frankreich nennt man dieses System «le systeme des champs ouverts et allonges» , in England «open-fields».

Das Kennzeichen liegt in der Offenheit der Parzellen, die nicht durch Hecken, Mauern oder Zäune eingefriedet sind, und in der Aufteilung der grossen Feldeinheiten in Verbände schmaler und langgestreckter Parzellen. Bisweilen stehen die Parzellenverbände zur bessern Unterscheidung mehr oder weniger rechtwinklig zueinander. Diese Parzellenbündel heissen in der deutschen Fachliteratur «Gewanne», und nach ihnen bezeichnet man das ganze System als «Gewannflursystem». Ein Gewann müsste definiert werden als ein Verband streifenförmiger Besitzparzellen, die nach dem Anbau homogen, nach dem Besitz heterogen sind. Wir ziehen den Begriff «Gewannflursystem» den Begriffen «Dreifelderwirtschaftssystem» oder «Dreizelgensystem» vor, weil nicht jedes Dreifeldersystem ein Dreizelgensystem ist, nicht jedes Dreizelgensystem eine Gewanntextur aufweist und umgekehrt nicht jede Flur mit Gewanntextur immer einem dreijährigen Fruchtwechsel unterlag. Der Begriff «Dreifelderwirtschaft» bezieht sich auf den bekannten dreijährigen Fruchtwechsel von Winterfrucht, Sommerfrucht und Brache.

Dieser Fruchtwechsel kann aber auch unabhängig vom Gewannsystem auftreten, bei grossflächigen Blockfluren oder arrondierten Einzelhöfen. «Dreizelgensystem» ist schon ein enger gefasster Begriff. Er besagt, dass das Dreifeldersystem einer Gruppensiedlung (Dorf und Weiler) zugeordnet ist und dass jeder Betrieb auf jeder Zeig mindestens ein Stück Land hat, das heisst, dass der Besitz in mehreren Stücken im Gemenge liegt. Die typische Textur der Bündel langgestreckter Parzellen ist aber damit noch nicht umschrieben. Er wird erst mit dem Begriff «Gewannflur» erfasst. Unsere Untersuchung von rund zwanzig Gemeinden im Kanton Bern und in der Westschweiz im Laufe von zwanzig Jahren hat aber das erstaunliche Resultat geliefert, dass sich bei der Minderzahl dieser Gemeinden drei Zelgen auch für frühere Zeit klar und eindeutig nachweisen lassen. Häufig besteht die Flur aus fünf und mehr grösseren Stücken, die offensichtlich erst nachträglich an das Dreizelgenschema angepasst wurden. Bisweilen scheint der Kern nachträglich erweiterter und verschmolzener Flurkonglomerate aus zwei Stücken bestanden zu haben. Es ist daher vorsichtig, das ganze System nicht schon von vornherein mit dem dreijährigen Fruchtwechsel in Verbindung zu bringen, sondern als «Gewannflursystem» zu bezeichnen. Charakteristisch für das volldurchgebildete System ist die Dreistufigkeit der Feldteilung. Die Flur besteht aus einigen grossen Einheiten, die in unserem Gebiet «FeIder» oder «Zelgen» heissen, in der Westschweiz «fins». Diese umfassen immer mehrere Gewanne, die in den bernischen Quellen in der Regel als «Acker» bezeichnet werden, in der Westschweiz als «quartiers», bisweilen auch als «cantons».

Sie zerfallen in die charakteristischen langen Besitzparzellen, die in der Regel in den bernischen und westschweizerischen Quellen vor 1800 diese Bezeichnung nicht führen, sondern einfach etwa als «ein Stück Acker, haltet... Jucharten» aufgeführt sind. Aus der Tatsache, dass im 16. Jahrhundert und auch noch später ein sehr grosser Teil aller Parzellen noch eine Jucharte, in Freiburg und der Waadt eine «pose» hielten, dürfte geschlossen werden, dass die Jucharte (36-40 a) beziehungsweise die «pose» (43-45 a) eine Normalparzelle in duodezimaler oder dezimaler Teilung eines Normalgewanns darstellte. Die Gewanne scheinen nämlich, mindestens in der Westschweiz, auch gewissen normierten Grössen zu entsprechen, wobei Seitenlängen von ca. 210 m sehr häufig auftreten. Die bernische Jucharte, deren Grösse im 18. Jahrhundert noch ziemlich variiert, würde einem Zwölftel, die westschweizerische «pose» einem Zehntel eines Normalgewanns von 210 m Seitenlänge entsprechen. Die Begriffe «Jucharte» und «pose» wären somit ursprünglich praktisch identisch mit dem Begriff der «Parzelle», was erklären würde, warum in den Urbaren ein besonderer Begriff für «Parzelle» fehlt.

Das Gewannflursystem war das Feldsystem einer sehr stark auf Getreidebau ausgerichteten Landwirtschaft. Die «Felder» oder «Zelgen» dienten bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts ausschliesslich oder überwiegend dem Getreidebau im dreijährigen Fruchtwechsel. Die Viehhaltung spielte eine untergeordnete Rolle. Immerhin treten in den Urbaren seit dem 16.Jahrhundert regelmässig, früher in den spärlichen Dokumenten dann und wann «Matten», also Mähwiesen auf. Sie lagen immer in den vernässteren Teilen der Flur und waren bisweilen in die Zeigen einbezogen, bisweilen ausserhalb derselben. Der Viehweide diente die Allmend, welche immer ausserhalb der Zelgeinheiten lag. Zum Schutz gegen das weidende oder durch die Feldwege auf die Allmend ziehende Vieh wurden die grossen Flureinheiten (Felder, Zeigen) mit Grünhecken, Zäunen, seltener Trockenmäuerchen umgeben.

Da diese Grenzen häufig mit Wegen zusammenfielen, waren die Wege oft beidseits von Hecken und Zäunen gesäumt. Mit dem Getreidebau hängt auch der Zusammenschluss der Gehöfte in einem Dorf zusammen. Das Dorf, mit Zaun, Hecke oder Mauer umgeben (Etterbezirk), bietet Sicherheit und menschlichen Kontakt. Es ist aber nur möglich, wenn bei Getreidebau alle Dorfgenossen gemeinsam das Feld bestellen, säen und ernten (Flurzwang). Dann stört es nicht, wenn der eine durch das Feld des andern geht oder fährt. Bei ausgedehnterer Viehhaltung muss man aber täglich auf die Felder hinausgehen, um Gras einzubringen, weidendes Vieh hinaus und einzutreiben oder dauernd weidendes Vieh zu melken. Damit wird die Gemengelage der Güter unmöglich, sofern nicht, wie heute, ein systematisches Wegnetz vorhanden ist, das alle Parzellen erschliesst.

Grössere Viehhaltung hat daher zu verschiedenen Zeiten zur Aufhebung der Gewannstrukturen und zu grossflächiger Blockflur oder sogar arrondiertem Betrieb geführt, wobei alle Stücke eingefriedet wurden. Folgerichtig wurden auch im Laufe der Zeit die Gebäude in die arrondierten Parzellen verlegt, so dass sich die Dörfer in Weiler, Hofgruppen oder sogar Einzelsiedlungen auflösten. Am Standort des Dorfes blieben nur Kirche, Pfarrhaus, Gasthaus, Dorfschmiede und andere Dienstleistungen. Dieser Prozess hat sich unter dem Einfluss der lndustrialisierung und Verstädterung in England im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts vollzogen und ist aus Schleswig-Holstein, Dänemark und Südschweden im 17. und 18. Jahrhundert unter der Bezeichnung «Verkoppelung (Einfriedung) der Fluren» gut bekannt. Es entstanden dadurch eigentliche Boccage-Landschaften, wie sie in der Bretagne und Normandie schon länger bestanden. Auch in Belgien und den Niederlanden setzte der Verkoppelungsprozess zum Teil schon im 16. Jahrhundert ein. ln den eingefriedeten Blockparzellen nahm der Getreidebau bisweilen noch eine beachtliche Stellung ein, trat aber doch gegenüber der Viehhaltung zurück.

lm schweizerischen Mittelland erscheinen heute und schon in Plänen und Ansichten des 17. und 18. Jahrhunderts etwa südlich der Linie Lausanne-Romont-Fribourg-Saanemündung-Frienisberg¬Burgdorf-Langenthal-Zofingen-Beromünster-Horgen-Grüningen-Wil-Rorschach grossflächige Blockflursysteme. Die normale Siedlungsform ist der Weiler oder die Gruppe von 2-3 Höfen. Zu jedem Betrieb gehören im

Mittel 3-5 grosse blockförmige Parzellen. Heute sind die Hecken und Zäune verschwunden, doch erscheinen in Ansichten des 17. Jahrhunderts hier oft eigentliche Heckenlandschaften, vor allem so weit Grasland ist. Man hat also in Mittel- und Westeuropa, auch in der Schweiz, mit zwei gegenläufigen Prozessen zu rechnen: Einerseits «Vergewannung›> und «Verdorfung››, anderseits «Verkoppelung» und Dorfauflösung. Aus dem Kanton Freiburg sind im höhern Mittelland gegen den Alpenrand «enclosures›› im 15. Jahrhundert urkundlich belegt. Den Bauern wird zugestanden, ihre Grundstücke einzufrieden und damit aus dem gemeinsamen Flurverband herauszulösen. Ähnliche Prozesse haben sich auch im Emmental abgespielt (Häusler, Lit. 12, Band ll, S. 16ff), wobei bisweilen auch schon früh, im 16. und 17. Jahrhundert, die Allmenden aufgelöst wurden (Häusler ll, S. 149ff).

Bei den Gewannflur-Dorfsystemen hat bereits Déléage (Lit. 7) in Burgund zwei unterschiedliche Typen erkannt:
1. Dörfer mit mehr oder weniger rechteckiger Gemarkung, mehr oder weniger rechtwinkligem Wegnetz und mehr oder weniger schachbrettförmiger Textur kurzer Blockgewanne.
2. Dörfer mit mehr oder weniger kreisförmiger oder unregelmässiger Gemarkung, mehr oder weniger sternförmigem Wegnetz und mehr oder weniger radialer Anordnung der Gewanne.


Unsere Untersuchungen in der Schweiz haben ebenfalls zur Unterscheidung dieser zwei Typen geführt, wobei der erste Typus eher in der Westschweiz, der zweite eher in der Nordschweiz verbreitet ist. Dabei haben wir des weitern festgestellt, dass beim zweiten Typus, z. B. in Grafenried (Zryd, Lit. 16), die drei Zelgen in der Regel klar unterscheidbar sind, beim ersten Typus dagegen die oben beschriebene Unklarheit der Zelgen im Gemeindeplan häufiger ist. Der Unterscheidung der beiden Typen dürfte bei der zeitlichen Einstufung der Siedlungen im schweizerischen Mittelland grössere Bedeutung zukommen.

Dagegen lässt sich in der Schweiz ein von der deutschen Flurforschung erkannter Unterschied nicht machen: Derjenige in Langgewanne und Kurz- oder Blockgewanne. Die schweizerischen Fluren zeigen fast durchwegs Kurz- oder Blockgewanne, das heisst solche, deren Längen-Breitenverhältnis klein ist, fast quadratisch, oder etwa 3:2, höchstens 5:2, bei Seitenlängen in der Grössenordnung von 140, 210, 220, 280, selten 350 m. Langgewanne dagegen, wie sie in Deutschland bisweilen auftreten, sind selbst schmal, streifenförmig und können bis zu 1000 m lang werden.

Die Vorstellung, die <<Dreizelgendörfer›› mit ihrer Dreifelderwirtschaft seien alemannische Gründungen der Völkerwanderungszeit, ist in der Schweiz- sogar in Kreisen der Wissenschaft, soweit sie nicht gerade auf diese Probleme spezialisiert ist- noch weit verbreitet. Diese Auffassung geht auf August Meitzen zurück, der um die Jahrhundertwende in seinem Monumentalwerk(Lit.13)die europäischen Siedlungs- und Feldsysteme beschrieben und gedeutet hat. Dabei ist ihm der für seine Zeit der ausklingenden Neuromantik typische Fehler unterlaufen, dass er den Siedlungs- und Fedsystemen, die damals noch vorhanden waren, aber durch Auflösung der Dreizelgenwirtschaft und Güterzusammenlegungen zu zerfallen begannen, grösste Stabilität beimass und ihren Ursprung ehrfurchtsvoll in früheste Perioden verlegte. Dabei unterlief auch der zweite Fehler, der für die Zeit typisch ist, dass die Siedlungs- und Feldsysteme, wie schon der Titel von Meitzens Werk andeutet, mit bestimmten Völkern in Verbindung gebracht wurden. Dabei wurde das schönste und komplizierteste Feldsystem, das Dreizelgen-Gewannsystem, den Germanen, in der Schweiz im besondern den Alemannen zugeschrieben. Dieselben Fehler beging damals auch die Bauernhausforschung. Man hielt um die Jahrhundertwende auch die Bauernhaustypen für durch alle Jahrhunderte unverändeliche Originalschöpfungen völkerwanderungszeitlicher Völker, und seither

ist die Vorstellung «alemannischer», «burgundischer», «fränkischer», «sächsischer» und anderer Bauernhäuser fast unausrottbar. indessen sind andere Forscher zu andern Ergebnissen gekommen. Der frühe Klassiker der römischen Geschichte, Theodor Mommsen (Lit. 14, 15), wies zum mindesten den dreijährigen Fruchtwechsel bereits für die römische Zeit nach. Damit ist aber nicht notwendigerweise das Dreizelgen-Gewannflursystem verbunden. Der früh verstorbene französische Agrarhistoriker Marc Bloch (Lit. 5) dagegen versuchte mit sehr scharfsinnigen Kombinationen nachzuweisen, dass das «systeme des champs ouverts et allonges» für den keltischen Raum Oberitaliens und Frankreichs bereits vor der römischen Besetzung typisch sei. Demgegenüber gewinnt die neuere, recht intensive deutsche Forschung, vor allem auch von der Rechtsgeschichte her, allmählich das Bild, dass Gewannflur und Dreizelgenwirtschaft ein ziemlich kompliziertes System darstellen, das sich erst im Laufe des Mittelalters in einem langen Entwicklungsprozess herausgebildet hat, wobei die Entwicklung unterschiedlich und zeitlich keineswegs überall parallel verlief.

Zu solchen Schlüssen kam unter anderem auch der aus Süddeutschland stammende Zürcher Rechtshistoriker Karl Siegfried Bader in seinen beiden bedeutenden Bänden über das mittelalterliche Dorf (Lit. 3, 4). Die Probleme sind noch keineswegs geklärt, und die Voraussetzungen vielgestaltig, mit denen wir an die Untersuchung von Dorf und Flur im Amt Erlach herangehen müssen.