Der Himmelsbrief aus Madretsch

Es mag ein Jahrhundert her sein, da wussten noch fast alle Leute, was ein Himmelsbrief sei. Stadtleute und Landleute. In der Wohnstube auf dem Unterzug-Bänkli  wurde er fein säuberlich ganz vorn in der Bibel aufbewahrt, der gedruckte oder handgeschriebene Himmelsbrief von Wenkenburg. Wenn die Jungen daheim ausflogen, vielleicht in die Stadt oder irgendwo in eine unbekannte Ferne, was weiss man, gar in die neue Welt hinüber, dann schrieben sie Mutters Himmelsbrief ab und nahmen ihn mit ins fremde Zimmer, ins neue Heim, denn er wurde als schutzbringend angesehen.

Es sind mir in meinem Leben rund ein Dutzend gedruckte Himmelsbriefe unter die Augen gekommen, aber  viele handgeschriebene, in deutscher Kurrentschrift und in Antiqua, in Michelschrift und Hulligerschrift, ja, selbst in der neuzeitlichen Schweizer Schulschrift, auf vergilbte commercial-linierte Quartbögli sorgfältig hingemalt oder auf Papier, das  aus Schulheften herausgerissen worden war,  schwerfällig mit  Röselifeder und violetter Tinte gekratzt. Manch arme Mutter, wenn sie den Tod nahen fühlte, versammelte ihre Kinder um das Bett und hiess sie das, was sie in ihrem einfachen Gemüt als wertvoll, als schutzbringend, betrachtete, abscshreiben, um sie des geheimnisvollen Schutzes ja teilhaftig werden zu lassen.

Lange Zeit glaubte ich, diese Briefe seien durch Krätzenträger, Schwummkrämer, Quacksalber, Hausierer und Zigeuner von jenseits des Rheines in unser Land gebracht worden, bis mir eines Tages ein guterhaltenes Stück in die Hände geriet, das unten in der Mitte den Vermerk trug: “Zu beziehen in der Buchdruckerei H.Schneider, Biel und Madretsch.“ Offensichtlich war die Nachfrage nach solchen Schriftstücken zu jener Zeit so gross, dass ein hiesiger Drucker ein kleines Geschäftchen witterte und flugs den mysteriösen Text in der üblichen Aufmachung durch die Presse gehen liess, nicht ohne den Bezugsort fein säuberlich anzugeben.

In faast jedem Brief heisst es, er sei am 29.März 1733 bei der deutschen Stadt Wenkenburg vom Himmel herunter gehangen, so dass er von jedermann gelesen werden konnte. Die Tatsache, dass er in der Luft hing, hat ihm den zweiten landläufigen Namen eingetragen: „ Lufthangbender Brief“. Entsprechend seinem Inhalt wird er auch etwa als Warnungsbericht oder Warnungsbrief bezeichnet.

Es wäre gemein, den interessierten Leser noch länger auf die Folter zu spannen und seinen Gwunder nicht endlich zu stillen. Bevor ich aaber den angeblich himmlischen Text zitiere, muss ich noch vorausschicken, dass er nicht überall wörtlich gleich gefunden zu haben, dann hegte er absolut keine Bedenken, den hergerachten Wortlaut entsprechend abzuändern. Im Grossen und Ganzen aber lautete er meist etwa wie folgt:

„ein ganz neuer und wahrhaftiger Warnungssbericht.

Von dem am 29.März 1733 zu Wenkenburg in der Luft gehangene Brief.

Welchen Gott hat sehen lassen, vor und in der Stadt, also dass Niemand weis, worauf oder woran er hangt, ist aber mit goldenen Buchstaben geschrieben und von Gott durch einen Engel gesandt; wer ihn Lust hat abzuschreiben, vor dem flieht er in die Luft. Erstens heisst es in dem Breif: ich gebiete Euch, dass ihr am Sonntag nicht arbeiten sollet, sondern mit Andacht fleissig in die Kirche gehet und fleissig betet und unter dem Angesicht Euch nicht schmücked

Zum Andern sollt ihr keine fremden Haare oder Perücken tragen, noch Hoffahrt damit treiben. Von euren Reichthümern sollet ihr den Armen auch mitteilen und glaubet dass dieser Brief mit Gottes eigener Hand geschrieben und von Jesu Christo uns ist aufgesetzt, auf dass ihr nicht tuet wie das unvernünftige Vieh. Ihr habt sechs Tage in der Woche eure Arbeit zu verrichten, aber den Sonntag sollet ihr mir heilgen. Wollet ihr mir es aber nicht tun, so will ich Krieg, Pestilenz und Hungersnot auf Erden schicken und mit vielen Plagen Euch strafen, auf dass ihr  es hart empfindet.

Zum dritten gebiete ich euch, dass ihr am Samstag nicht zu spät arbeitet und am Sonntag wieder früh in die Kirche gehet, ein jeder, er sei jung oder alt, in wachender Andacht seine Sünden bekennen, auf dass sie Euch vergeben werden.

Zum vierten begehret nicht Gold oder Silber, treibet nicht Betrug mit kleinen Sachen, noch Hoffahrt, noch Fleischeslust und Begierden, sondern gedenket, dass ich alles gemacht habe und wieder zerschmeissen kann.

Einer Rede dem andern nichts Böses nach und freue Dich nicht, wenn Dein Nächster arm wird, sondern habe Mitleid mit ihm. Ihr Kinder, ehret euren Vater und Mutter, so wird es Euch wohl ergehen: Wer das nicht glaubt und nicht haltet, der sei verloren und verdammt. Jesus hat das mit seiner eigenen Hand geschrieben, wer es widerspricht und von mir abssteht, der soll meine Hilfe nicht zu gewarten habe; wer den Brief hat und nicht offenbart, der sei verflucht von der herrlichen Kirche Gottes und von meiner allmächtigen Hand verlassen.

Dieser Brief wird einem jeden gegeben abzuschreiben; und sollten euere Sünden so viel seyn wie Sand am Meer und Gras auf dem Feld, sollen sie euch doch vergeben werden, so ihr glaubt und haltet was dieser Brief sagt. Ich werde Euch am jüngsten Tag fragen und ihr werdet mir von Euren Sünden wegen nicht ein Wort können antworten.

Wer diesen Brief hat zu Haus, den wird kein Wetter erschiessen oder Donner erschlagen, vor Feuer und Wasser wird er verwahret und sicher seyn. Welche Person den Brief hat und bey sich tragt, und den Menschenkindern offenbart, die soll einen fröhlichen Abschied von dieser Welt nehmen und empfangen.

Haltet meinen Befehl, den ich Euch gegeben durch den Diener, welchen ich gesandt habe. Ich, ein Apostel, noch für Euch gegeben zu Wenkenburg in der Luft gehangenen Brief, den 29. May 1733. Du, Mensch, betrachte doch, was sich hier zugetragen, Gott hat es so gefügt und das ist seine Hand, Er wolle, dass wir nicht sein Strafen müssen tragen; Ach Herr, behüte selbst die Stadt und unser Land; Ach, lass uns diese Ruh noch lange Zeit geniessen, Und diesen Gnadenstrom beständig auf uns fliessen!»

(Das letzte Abschnittlein vor den Versen hat durch ungenaues Abschreiben den Sinn verloren.)

Über den Zweck des Briefes äussert sich Dr. H. Zahler im Jahrgang 1906 der «Grunaublätter» wie folgt: «Zweck des Briefes war ursprünglich, für die strickte Sonntagsheiligung Propaganda zu machen, wie das aus dem Text deutlich hervorgeht. Damit der Zweck erreicht werde, wird mit Versprechungen und Drohungen nicht gekargt. Merkwürdig ist nun, dass anfänglich die rechtgläubige Kirche sich dem Briefe gegenüber durchaus ablehnend verhalten hat. Es erklärt sich daraus, dass die Sonntagsheiligung ursprünglich nicht christlicher, sondern jüdischer Herkunft ist, in Anlehnung an die jüdischen Sabbatgesetze. Die ersten Christen wussten von einer Sonntagsheiligung im Sinne eines allgemeinen Ruhetages nichts, und da die strenggläubige Kirche gegen alles was jüdisch war, eine ausgesprochene Abneigung bekundete, so wollte sie auch von diesem offenkundig aus jüdischen Anschauungen hervorgegangenen Schriftstücke nichts wissen."

Ein befreundeter Pfarrer taxierte den Brief als krassen Aberglauben, was weniger für den ganzen Inhalt als vielmehr für das Drum und Dran gelten dürfte. So ist gerade bei älteren Leuten der Glaube an die Schutzkraft des Briefes noch weit herum vorhanden («. . den wird kein Wetter erschiessen. . . !»), und man scheut sich, zur sömmerlichen Gewitterzeit das Papier zum Photographieren auch nur für eine Nacht ausser Hauses bringen Zu lassen. Anderseits bietet er all denen besonderen Schutz, die ihn auf sich tragen. Diese zweite Eigenschaft scheint einer der Gründe zu sein für das häufige Abschreiben. Aus Deutschland wurde mir berichtet, dass während des letzten Weltkrieges Hunderttausende von Soldaten vor dem ersten Einrücken an die Front den Brief abschrieben oder von Mutter, Frau, Liebsten oder Kindern abschreiben liessen und bis zum Tode oder dem Ende des Krieges auf sich trugen. Das sei übrigens schon im Deutsch-französischen Krieg 1870/71 der Fall gewesen, wo viele Tote den Himmelsbrief im Waffenrock bei sich trugen,  Bekannt ist in der Volksmedizin die Wunderkraft des Himmelsbriefes in jenen Fällen, da eine Geburt sich allzusehr verzögerte. Man legt, falls alle andern Mittel versagen, der Frau noch den Brief auf den Leib und erst, wenn auch dann kein Erfolg eintritt, holt man den Arzt. Dass das auch heute noch gelegentlich praktiziert wird, bestätigte mir eine Ärztin, welche beobachtete, dass der Wunderbrief weggenommen wurde, wenn sie am Bette eintraf.

Der Literatur ist zu entnehmen, dass Himmelsbriefe nicht etwa nur im Kanton Bern vorkommen, nein, ihre Verbreitung geht sogar weit über die Landesgrenze hinaus. In den Jahrgängen 1898-1900  des Schweizerischen Archivs für Volkskunde findet man einen deutschschweizerischen, einen welschsprachigen und einen rätoromanischen lufthangenden Brief. Auch für Deutschland und Österreich sind solche Warnungsberichte nachgewiesen. Selbst in armenischer, aethiopischer, arabischer, syrischer Sprache soll es ähnliche Briefe geben.

 Die Idee, dem Volke gewisse Glaubenssätze durch Briefe bekannt zu machen, welche angeblich dort und dort zu einem bestimmten Zeitpunkt vom offenen Himmel herabgelassen wurden, ist schon recht alt, stammt Wohl aus heidnischer Zeit und wurde später vom Christentum übernommen. Dr. H. Pfannenschmied berichtet in «Die Geissler des Jahres 1349 in Deutschland und den Niederlanden», dass in einem Briefe des Bischofs von Karthago vom Jahre 581 sich bereits ein solcher Himmelsbrief erwähnt finde. Auch Kaiser Karl der Grosse sah sich im Jahre 789 genötigt, gegen einen solchen «schädlichen und erlogenen Brief» Stellung zu nehmen.

Der Vollständigkeit halber möchten wir zum Schluss noch beifügen, dass es eine Stadt Wenkenburg überhaupt nicht gibt und das Datum, wann der Brief dort beobachtet worden sein soll, ganz unsicher ist. In den mir von den einzelnen Besitzern vorgelegten Stücken fanden sich Differenzen von rund zwölf Jahren.