Spaltung der Liberalen - Die Freischarenzüge 1844 / 45
Sicher hat die Umwälzung von 1831 bessere Zustände geschaffen, doch waren, das Schul- und Bildungswesen ausgenommen, von den verheißenen Reformen die wenigsten durchgeführt worden. Dazu kam, daß die Regierung, von der Flüchtlingsschwärmerei ernüchtert, ins Gegenteil umschlug und sich dadurch den Volkszorn zuzog. Im Streit um die Ausweisung des Prinzen Louis Napoleon Bonaparte wollten die Schnell dem Begehren Frankreichs nachkommen. Allein der Große Rat folgte den feurigen Worten von Charles Neuhaus und lehnte das französische Begehren ab. Am andern Tage nahmen die bisher allmächtigen Brüder Hans und Karl Schnell die Entlassung aus ihren öffentlichen Ämtern, an die Spitze des Staates trat Neuhaus. Seinem gebietenden und entschiedenen Wesen entsprach ein straffes, selbstherrliches Regiment.
In und neben der liberalen Bewegung wuchs mit der Zeit eine neue Generation heran, die mit der Leidenschaftlichkeit der Jugend ihren Anteil an der Politik und der Macht im Staate verlangte. Diese draufgängerische Richtung, die radikale, drängte von der repräsentativen auf die direkte Demokratie hin. Wohl verkündete die Verfassung von 1831 als obersten Grundsatz die Volkssouveränität, das heißt, daß alle Gewalt im Staate der Gesamtheit der Bürger gehört. Dieser demokratische Grundsatz erfuhr jedoch insofern eine starke Einschränkung, als das Volk die Staatsgewalt nicht selbst, sondern durch die von ihm gewählte Vertretung, den Großen Rat, ausübte. Dem Volk blieb einzig das Recht, zu wählen und über die Verfassung abzustimmen. Aber auch dieses Recht war nicht allgemein und gleich. Wie es sich damit verhielt, ist in der geschilderten «Wahlkontroverse» nachzulesen. Die Verfassung war das Werk des Mittelstandes. Mit dem Wahlzensus verwehrte er den Kleinbauern und Arbeitern, die schon mit beunruhigenden wirtschaftlichen Forderungen hervorgetreten waren, den Eintritt in den Großen Rat, und mit der indirekten Wahlart bezweckte er eine strengere Kandidatenauslese. Immerhin war man sich des dem System anhaftenden innern Widerspruchs bewußt, denn «es bezeugt Mißtrauen gegen die Mehrzahl des Volkes, und trotzdem verlangt es, daß diese Mehrzahl gute Wahlmänner ernenne».
Die Wortführer der vorwärtsstürmenden Radikalen, Ulrich Ochsenbein und der junge Jakob Stämpfli, hielten der Regierung ihre großen Versäumnisse vor und machten sie für alle vorhandenen Mängel und Gebrechen verantwortlich. Aber mehr als durch diese Kritik wurde die Stellung der Regierung erschüttert durch die zweideutige Haltung, die sie zu den Freischarenzügen einnahm. Die einem mißleiteten Glaubenseifer entsprungene Berufung der Jesuiten nach Luzern entfesselte in den liberalen Kreisen eine stürmische Gegenbewegung, die auch Biel ergriff. Auf die Nachricht, daß die Luzerner Liberalen eine Erhebung planten, wurde eilig zu einer Versammlung ins Rathaus aufgeboten. Die sofortige Bildung einer Freischar hatte hitzige Befürworter in Ulrich Ochsenbein, Großrat Alexander Schöni und den deutschen Flüchtlingen Ernst Schüler und Philipp Becker; eine abmahnende Stimme verhallte ungehört. Die anderntags ausgezogene Schar kam nicht über Solothurn hinaus; hier erreichte sie die Kunde, daß die Erhebung mißlungen und niedergeschlagen sei, worauf unsere Mannen kleinlaut umkehrten. Die Willkür und maßlose Härte, mit der die luzernische Regierung gegen Schuldige und Unschuldige einschritt, steigerte die Erregung zur Wut auf die Jesuiten und ihre Werkzeuge. Die Tagsatzung, wo beide Parteien einander mit bitteren Worten beschuldigten, enthüllte einmal mehr die Kraft- und Hilflosigkeit des Bundes vor der Eigenmacht der Kantone. Umso lauteren Widerhall fand im Volke der Ruf nach einer großen Befreiungstat. Mehrheitlich der Sache der Freischaren zugetan, unterließ es die Regierung, der unter ihren Augen sich vorbereitenden neuen friedensbrecherischen Unternehmung und dem Marsch auf Luzern ernsthaft entgegenzutreten. Besonders stark war der Zuzug aus dem Seeland; ein halbes Hundert Bieler marschierte mit. Sogar zwei Kanonen aus dem Schloß Nidau wurden mitgenommen.
Der unglückliche Verlauf des Zuges geriet der Regierung Neuhaus zum Verhängnis. Um ihre Mitschuld zu bemänteln, griff sie zur Strenge und beschloß, Beamte und Offiziere, die am Freischarenzuge teilgenommen hatten, im Dienst einzustellen. Darob bemächtigte sich des Volkes, das mit dem Herzen bei jenen war, die für die «große und gerechte Sache der geistigen und politischen Freiheit gegen kirchliche Reaktion und Jesuitismus» kämpften und litten, eine bittere Stimmung und tiefe Erregung. Ihr verlieh Stämpfli, einer der Gemaßregelten, Ausdruck. Mit schneidender Schärfe zog er in seiner «Berner Zeitung>› die Zweideutigkeit der Regierung vor Gericht
und scheute sich nicht zu sagen, «daß die Regierung den Freischarenzug nicht hat hindern wollen, daß sie ihn selbst als eine Notwendigkeit erkannt hat; daß sie, wenn er gelungen wäre, Glückwünsche und Freudebezeugungen für ihn gehabt hätte. Dennoch wälzt sie jetzt alle Verantwortung von sich ab und auf einzelne Teilnehmer».
In Biel entlud sich der Volkszorn in sinnlosen Aufläufen und rohen Ausschreitungen gegen Fremde, die im Verdacht standen, Sonderbündler zu sein. Dagegen wurde die Kunde von der Befreiung und Flucht des gefangenen und zum Tode verurteilten Führers der luzernischen Radikalen Dr. Robert Steiger mit Böller- und Kanonenschüssen gefeiert.
So wenig die Bieler zum politischen Umschwung der dreißiger Jahre beigetragen hatten, so eifrig waren sie jetzt dabei, die damaligen Führer der Schwäche, wo nicht gar des Verrats zu zeihen. «Aufgeräumt muß auch in neuen Häusern werden, wenn nicht Kehricht und Spinngewebe sich anhäufen soll!» schrieb die in Biel erscheinende «Neue Jurazeitung», während zu gleicher Zeit mit dem Freischarenwesen ein wahrer Kult getrieben wurde.
Ein allgemeiner Aufruhr der Gemüter ging durch das Land und ein Schwall von Anklagen, Wünschen und Forderungen schlug der Regierung entgegen, die in sich zerrissen und ohne Halt mehr war. Angeführt von Jakob Stämpfli und dem schwungvollen Ulrich Ochsenbein, der den zweiten Freischarenzug befehligt hatte und dadurch, obschon geschlagen, populär geworden war, trotzte das Volk der Regierung und dem Großen Rat die Wahl eines Verfassungsrates ab. Dieser entwarf ein den Wünschen der Radikalen angepaßtes neues kantonales Grundgesetz, das die Volksrechte erweiterte, das allgemeine, geheime und direkte Wahlrecht verwirklichte und das stimmfähige Alter auf zwanzig Jahre herabsetzte. Die Bodenlasten wurden abgelöst, das Steuerwesen verbessert, die Armenpflege neu geordnet, das Rechtswesen volkstümlicher gestaltet. Mit erdrückendem Mehr, in Biel nahezu einstimmig, nahm das Berner Volk am 31.Juli 1846 das Verfassungswerk an.
Die Wahlen in den neuen Großen Rat fielen, wie nicht anders zu erwarten war, zu Gunsten der Radikalen aus. Biel hatte sich von Neuhaus abgewendet und stand mit dem von Schüler geleiteten «Volksverein» völlig im radikalen Lager. Der Große Rat verfuhr bei den von ihm zu treffenden Wahlen ausschließlich, und nur erklärte Parteigänger fanden vor ihm Gnade, in Biel als Regierungsstatthalter Alexander Schöni. Der Radikalismus war über die Liberalen hinweggeschritten. Neuhaus, der letzte Schultheiß von Bern, dem die ganze Bewegung als eine Auflösung der Staatsgewalt erschien, schied krank und grollend aus dem öffentlichen Leben und kehrte nach Biel zurück.