Charles Neuhaus
Ziel- und Haltlosigkeit entzog den Handlungen der Bieler die Durchschlagskraft. Ihr Anschluß an die Erneuerungsbewegung blieb deshalb von untergeordneter Bedeutung. Umso bemerkenswerter ist, daß die Stadt Biel in der Person des hochgesinnten Charles Neuhaus den Mann in den Verfassungsrat entsandte, der «zur repräsentativen Figur der Regenerationsepoche» werden sollte und wiederholt bedeutsam in die eidgenössische Politik eingriff.
Charles Neuhaus entsproß einer angesehenen Bieler Familie. 1796 in Neuenburg geboren, besuchte er daselbst die Schulen und durchlief das Gymnasium. Die alten Sprachen waren seine Lieblingsfächer. Nach glänzendem Schulabschluß wandte er sich dem kaufmännischen Berufe zu und trat in ein Straßburger Handelshaus ein. Die Geschäftstätigkeit fiel ihm leicht, so daß ihm die halbe Lehrzeit geschenkt wurde. Hier, in Straßburg, erlernte er die deutsche Sprache, hauptsächlich im fleißigen Theaterbesuch. Reichliche Lektüre und akademische Vorlesungen füllte seine freie Zeit aus. Schmerzlich entbehrte er das elterliche Heim, seine Eltern waren geschieden. Bei keinem Teil fand er, was er suchte: Liebe und Verständnis.
Nach mehrjähriger Abwesenheit kehrte er in die Schweiz zurück. In Biel, seiner Heimatstadt, fand er Anstellung in der Verdanschen Indiennefabrik. Er heiratete die Tochter des Fabrikanten und wurde Mitinhaber des Geschäfts. Seine Ehe war glücklich, er lebte in ruhiger Zurückgezogenheit und etwas abseits von seinen Mitbürgern, die ihn ein wenig verwundert gelten und gewähren ließen. Zu seinem liebsten Umgang gehörte der alte französische Arzt und Menschenfreund Dr. Pugnet, dessen Lebensgeschichte er schrieb, als er sich von der Politik zurückgezogen hatte.
Sein Zug zu höherem Wirken und sein schwer zu befriedigender Ehrgeiz traten in diesen Jahren geschäftlichen und häuslichen Glückes zurück. Sein Wesen verlor die frühere Schärfe. Sein Hang zur Philosophie und zu sozialen Theorien hatte abgenommen, und er freute sich jetzt an den Lebensweisheiten der französischen Memoirenschreiber und Aphoristikern, an Musik und Gesang.
Es brauchte das gewaltige Ereignis der Julirevolution und die Einwirkung seines Freundes Emanuel Schwab, um Neuhaus zur Beschäftigung mit dem politischen Geschehen aufzurufen. Als Mitglied und französischer Sekretär des Verfassungsrates erhielt er Gelegenheit, sich mit den behandelten Fragen und dem parlamentarischen Betrieb vertraut zu machen. Die in angestrengter Nachtarbeit vorzüglich abgefaßten Protokolle hatten nicht nur den Beifall der Ratsmitglieder, sondern wurden auch außerhalb des Ratssaals gern gelesen.
In einem ausführlichen Schreiben an den Rat von Biel legte Neuhaus seine politischen Grundsätze dar und anerbot sich, im Verfassungsrat die Rechte der Stadt zu verteidigen. Der Magistrat, der vor allem trachtete, die in der Vereinigungsurkunde zugesicherten Vorrechte, wie namentlich die Erhebung von Zoll- und Ohmgeld, zu behaupten und die Stadt zum Sitze eines eigenen Amtes zu erheben, instruierte Neuhaus in diesem Sinne, dachte aber realistisch genug, um schließlich die Bereitwilligkeit auszusprechen, «auf Vorrechte, die mit der neuen Verfassung nicht vereinbar wären, gegen genugtuenden Ersatz zu verzichten››. In der Tat konnte in dem Augenblick, wo der Zeitgeist keine Privilegien mehr anerkannte und duldete, die Stadt Biel nicht wohl länger auf einer Sonderstellung im Kanton beharren. Sie erreichte immerhin, daß «betreffs der eigentümlichen Verhältnisse Biels›› im Übergangsgesetz zur Verfassung die auf die Vereinigungsurkunde sich stützenden Begehren und Verwahrungen der Stadt der kommenden Regierung «zur möglichen Berücksichtigung vorgelegt» wurden. Aber es dauerte Jahrzehnte, bis der gegen den Staat angestrengte Entschädigungsprozeß durch einen Vergleich beigelegt und Biel 1864 mit 50000 Fr. abgefunden wurde.
Die vom Verfassungsrat ausgearbeitete Verfassung wurde am 31. Juli 1831 dem Berner Volk, das zum ersten Male über sein Grundgesetz zu entscheiden hatte, zur Abstimmung unterbreitet. Obschon die Annahme nicht zweifelhaft war, übertraf doch das Ergebnis die kühnsten Erwartungen der Freunde der neuen Ordnung: 27802 Bürger stimmten dafür und nur 2153 dagegen. In Biel, wo sich sämtliche Stimmberechtigten beteiligten, zählte man 392 Annehmende gegen 6 Verwerfende. Bei den darauffolgenden Wahlen für den Großen Rat erhielt Neuhaus, wie er selber berichtete, «toutes les voix sauf la mienne»( alle Stimmen außer meiner) . Eine der ersten Sitzungen des Großen Rates brachte seine Wahl zum Regierungsrat. Ihm wurde das Erziehungswesen anvertraut, das den Liberalen besonders am Herzen lag. Die bernische Hochschule ist sein persönliches Werk.
Als die Brüder Schnell 1838 aus ihren öffentlichen Ämtern schieden, gingen Macht und Führung an Neuhaus über. Seit 1839 jedes zweite Jahr bernische Schultheiß - der erste, ohne Burger von Bern zu sein - wußte er beides, die Würde seines Amtes und die des Landes zu wahren wie kein anderer. Einmischungsversuche des Auslandes wies er entschieden zurück. Von überragendem Geist, klar und durchgreifend im Handeln, verschmähte er billige Kompromisse. Seine umfassenden Kenntnisse, seine wuchtige Beredsamkeit, sein mutiges Auftreten gegen fremde Anmaßung hatten ihm ein ungewöhnliches Ansehen verschafft und ihn zum mächtigsten Mann der freisinnigen Schweiz erhoben. Neben der demokratischen Umgestaltung der Kantone erstrebten die Liberalen von 1830 die Stärkung des Bundes, Neuhaus wurde zum Vorkämpfer des Bundesstaates. Was ihn vor andern auszeichnete, war, wie Richard Feller in «Berns Verfassungskämpfe» sagt, daß seine politische Überzeugung über die bloße Nützlichkeit hinaus eine sittliche Ordnung anstrebte.
Aber nur wenige Jahre gingen ins Land, so vollzog sich an Neuhaus das Los, das selten einem von der wandelbaren Volksgunst Umschmeichelten erspart bleibt. Denn die Unbedingtheit der Anschauungen und die Grundsatztreue, die ihn auf die Höhe trugen, stießen gerade auf dieser Höhe mit dem Gebot der Wirklichkeit und der Verantwortlichkeit des Staatsmannes feindlich zusammen und nötigten ihn zu Handlungen, die ihn in Widerspruch zu seiner früheren Haltung setzten und seine Anhänger enttäuschten, so daß sie sich von ihm abwandten.