Zwei ungleiche Städte
In Burgdorf begann es. Hier herrschte, anders als in Biel, eine geistige Strebsamkeit, die sich im gesellschaftlichen Leben wie in der Gemeindeverwaltung vorteilhaft kundtat. Umso mehr mußten die eidgenössischen und kantonalen Zustände als überlebt, die Regierungsformen als kleinlich und das Familienregiment als unerträglich empfunden werden und den Wunsch und Willen wecken, eine Änderung herbeizuführen. An der Spitze der Bewegung, die in raschem Ansturm das stolze bernische Patriziat zu Fall brachte und eine auf der Souveränität des Volkes gründende Staatsverfassung schuf, standen die Brüder Hans und Karl Schnell.
Über das, was in Burgdorf angestrebt, verhandelt und beschlossen wurde, wie auch über die ins Werk gesetzten Verbesserungen und Neuerungen in der Gemeindeverwaltung hielt der dort weilende, mit dem Schnellschen Kreise eng verbundene junge Eduard Bloesch seinen Bruder Dr. Cäsar Bloesch in Biel auf dem laufenden: «Ich denke noch bisweilen etwas hinüberzusenden, eine Bombe in den spießbürgerlichen Klub mag gute Wirkung tun.›› Cäsar Bloesch versäumte nicht, seine Gesinnungsfreunde, namentlich Charles Neuhaus und Emanuel Schwab, ins Vertrauen zu ziehen; aber wenn sie sich vorgenommen hatten, in Biel nach dem Vorbild von Burgdorf eine Bewegung für die Einführung einer freiheitlichen Verfassung zu entfachen, so mußten sie bald innewerden, daß ihren Mitbürgern daran wenig gelegen war. Von Cäsar Bloesch im Sinne der Burgdorfer verfaßte Eingaben an den Rat fanden nicht die nötige Unterstützung. Während in Burgdorf das Begehren nach einer freiheitlichdemokratischen Verfassung ging, drehte sich in Biel alles um rein örtliche Rechte und Vorrechte. Der Rat fürchtete für die bevorzugte Stellung der Stadt, die schon immer Gegenstand des Neides der andern Landstädte war und die bei einer Verfassungsänderung eher zu verlieren als zu gewinnen hatte. Die halb aufrührerische, halb ängstliche Unzufriedenheit, die in der Bevölkerung
mottete, hatte verschiedene Ursachen. Manche konnten sich nicht in die Vereinigung mit Bern schicken und trauerten der verlorenen staatlichen Selbständigkeit nach, andern war die Lebenslänglichkeit der Ratsstellen ein Dorn im Auge; sie warfen dem Stadtrat Gleichgültigkeit und Willkür in der Behandlung der Geschäfte vor. Bei den meisten aber hatte, wie gesagt, die Unzufriedenheit ihren Grund lediglich in der vermeintlich allzu kargen Holzzuteilung, den beschränkten Weiderechten, im Verbot des freien Weinausschanks, in der Konkurrenz der fremden Handwerker, im angeblich nur für die Söhne reicher Väter bestimmten Gymnasium. Dann gab es welche, die mit dem Gedanken einer Trennung von Bern liebäugelten. Der Kleine Rat, geistestrage und regierungstreu, lehnte die Bewegung ab, weil er die Vorrechte der Stadt nicht aufs Spiel setzen wollte. Umgekehrt wurde ihm vorgeworfen, daß er nicht nachdrücklich genug diese Rechte gegen Übergriffe der Regierung wahrnehme. Im Großen Stadtrat bekämpften sich Anhänger und Gegner der alten Ordnung. Im Unterschied zu Burgdorf und auch zum Jura, die beide mit gesammelter Kraft ihre Ziele ansteuerten, ergingen sich unsere Bieler wieder einmal in einem Wirren Durch- und Gegeneinander von Wünschen und Begehren und verzehrten sich in Zwistigkeiten.
Wohl versuchten Bloesch und Neuhaus, Ordnung in den Gang der Dinge zu bringen, was ihnen aber bei dem «beweglichen Charakter der Bevölkerung» nur unvollkommen gelang. Wie sich ein Teil der Bürgerschaft den Anbruch einer neuen Zeit vorstellte und was er davon erwartete, zeigte sich, als Scharen des Volkes frevelnd in die Wälder drangen, Bäume fällten und nach Hause schleppten.
Die Regierung machte zuerst Miene, sich gegen die Volksbewegung zu stemmen, kam aber, in sich selbst uneinig, nicht über halbe Maßnahmen hinaus. Auf das Gerücht, sie werbe zu ihrem Schutze die aus den französischen Diensten entlassenen Schweizer Söldner an, rüstete man sich allenthalben zum Widerstand und drohte mit einem «Marsch auf Bern». Jetzt schien die Regierung nachzugeben. Sie beschloß die Einsetzung einer außerordentlichen Standeskommission, die sämtliche auf Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung gerichteten Volkswünsche entgegennehmen sollte. Am 20. Dezember 1830 fand in Biel auf Einladung eines Komitees, dem Bloesch und Neuhaus angehörten, eine Versammlung von Abgeordneten seeländischer und südjurassischer Gemeinden statt. Unter der zielbewußten Leitung von Neuhaus faßte sie ihre Begehren für eine repräsentative Demokratie in bestimmte, klar formulierte Anträge. Sie sind später fast alle in der Verfassung berücksichtigt worden.
Der altgesinnte Rat der Stadt glaubte, der Regierung versichern zu müssen, daß er den Beschlüssen der Versammlung fern stehe, und vergrößerte damit noch die Kluft zwischen ihm und der aufgerührten Bürgerschaft. In den ersten Januartagen 1831 löste eine wüste Lärmszene die andere ab, die tobende Menge forderte den sofortigen Rücktritt des Rates. Es kennzeichnet die gewalttätige Stimmung der Januartage, daß sich zum Besuche der von den Brüdern Schnell nach Münsingen einberufenen Versammlung nur einige wenige gewinnen ließen, während es ein leichtes gewesen wäre, die halbe Bevölkerung zu einem «Marsch auf Bern» auf die Beine zu bringen.
An die fünfzehnhundert «wohl angesehene Männer» aus allen Teilen des Kantons trafen am 10.Januar 1831 in Münsingen ein. Auch Neuhaus war anwesend. Mit ernster Entschlossenheit nahm die in der Kirche tagende Versammlung das Programm für eine demokratische Neugestaltung des bernischen Staatswesens auf, und mächtig widerhallte die Kirche vom Ruf nach einem Verfassungsrat. Ohne sich länger zu wehren, gab der Große Rat dem Verlangen statt und kündigte den Rücktritt der Regierung an. In Biel, wo der Großteil der Bürgerschaft dem Geschehen bisher ohne ernsthafte Anteilnahme gegenüberstand, mußte jetzt die von Bern eingetroffene Nachricht den Vorwand für eine ausgelassene Lustbarkeit liefern. «Unter pöbelhaften Auftritten - schreibt ärgerlich der von dem Treiben angewiderte Dr. Cäsar Bloesch - mußte wieder eine geschundene Tanne als Symbol der Freiheit vor dem Rathause aufgestellt und der Patriotismus der Bürger mit 500 Maß Wein in rechten Fluß gebracht werden.»