Stadt im Umbruch

Biel steht auf der Schwelle des Übergangs in eine anspruchsvolle Zukunft. Die seit Jahren andauernde Prosperität, deren sich vorzüglich die Uhrenindustrie erfreut, steht in der Wirtschaftsgeschichte der Stadt einzig da. Sie kommt zum augenfälligen Ausdruck in der Baulust eines fortschritts- und zukunftsfreudigen Geschlechts. Eine neue Gründerzeit ist angebrochen. Es gehört zu ihr, daß sie den materiellen Vorteilen die unwägbaren Traditionswerte unbedenklich opfert.

Vielleicht empfindet es der Leser als grämliche Altersskepsis, wenn der Verfasser den weitverbreiteten Glauben an eine ewige Hochkonjunktur nicht teilt und den herrschenden Optimismus nicht ohne Vorbehalt lobt. Neben ihren handgreiflichen Segnungen zeitigt die Wirtschaftsblüte Erscheinungen, die nachdenklich stimmen. Der materielle Segen verändert Menschen und Sitten. Er schafft ein moralisches Klima, das eine ohnehin der materiellen Seite des Lebens zuneigende Bevölkerung für die Verlockungen eines oberflächlichen Genußlebens noch anfälliger macht.

Das technische Zeitalter, das sich unterfängt, die Welt nach seinem Bilde zu formen, findet in Biel offene Türen. Sogar die Altstadt muß sich entstellende Eingriffe gefallen lassen. Der um die «unversehrte Erhaltung» des mittelalterlichen Stadtbildes getriebene Wortaufwand kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er weniger frommer, dem Heimatschutz verpflichteter Gesinnung entspringt, als den Belangen des Fremdenverkehrs gilt.

Biel dehnt und reckt sich nach allen Seiten. Unablässig fügen sich neue Häusergruppen an das Bestehende, doch ohne sich mit ihm zu einem organischen Ganzen zu verbinden, es bleibt bei einer rein äußerlichen, additionsmäßigen Ausbreitung. Aber auch innerhalb der Stadt ist fortwährend Neues im werden, muß ihm das Alte weichen. Große Baublöcke und Hochhäuser wachsen unter dem höllischen Lärm der Preßluftbohrer und Rammhämmer aus dem Boden. Dabei dauert der Wohnungsmangel an, und das Gymnasium wartet in unzulänglichen Räumen auf den seit Jahrzehnten fälligen Neubau. Turmbauten, ursprünglich als Akzente im Häusermeer, als Sammel- und Mittelpunkte von Wohnquartieren gedacht, häufen sich und lassen in ihrer ungestalten Einförmigkeit jede städtebauliche Bewandtnis vermissen. Wie zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, so scheint auch jetzt die bauliche Entwicklung der Stadt der ordnenden Hand der Baubehörden zu entgleiten. Der übersteigerte motorisierte Straßenverkehr erzeugt eine Bewegung und täuscht eine Geschäftigkeit vor, wie sie in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist.

Unter den zehn größten Städten der Schweiz weist Biel neben Genf verhältnismäßig die stärkste Bevölkerungszunahme auf und entwickelt sich im fruchtbaren Wechselspiel von Geben und Nehmen zum Zentrum und Hauptorts eine ununterbrochen sich erweiternden Umkreises. Es sieht sich dadurch vor Aufgaben gestellt, die nur in Zusammenarbeit mit den umliegenden Gemeinden richtig gelöst werden können. Hiezu bildet der Zweck- oder Gemeindeverband, der im Gegensatz zur Eingemeindung die politische Selbständigkeit der in ihm zusammengeschlossenen Gemeinden schont, das geeignete Mittel.

Der städtische Haushalt ist in stürmischem Wachstum begriffen, dem Gemeinwesen werden immer neue Aufgaben überbunden, was die unaufhörliche Ausweitung des Budgets als ein historisches Gesetz erscheinen läßt; darin finden ausgabefreudige Behörden ihre Rechtfertigung, während ihre Kritiker von einem Danaidenfaß sprechen. Weil überdies eine durch den guten Geschäftsgang verwöhnte Bevölkerung dazu neigt, das Wünschbare als Bedürfnis und Notwendigkeit zu empfinden, drohen sich die Ausgaben ins Ungemessene zu steigern. Darüber gerät die alte Wahrheit, daß es unerläßlich ist, die Bilanz eines Gemeinwesens im Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben zu halten, leicht in Vergessenheit. Eine gewisse Elastizität, die erlaubt, daß eine Jahresrechnung ausnahmsweise mit einem Mehr an Ausgaben abschließt, setzt Jahre mit größeren Einnahmen voraus. Über die großen Schwierigkeiten des vielberufenen zyklischen Budgetausgleichs äußerte sich auf drastische Weise der bekannte Volkswirtschafter Josef Schumpeter: So wenig einem Mops zuzumuten sei, in guten Tagen eine Wurstsammlung für schlechte Tage anzulegen, so wenig werde es einem Gemeinwesen gelingen, in der Hochkonjunktur Geld für schlechte Zeiten aufzuspeichern, weil mit jedem erfüllten Wunsch die ungestillten Wünsche nur umso heftiger nach Geltung drängen.

Sehwarzmalerei ist ein erblicher Kunstgriff der Finanzverwaltung. Aber Budgets und Rechnungsabschlüsse mit Fehlbeträgen sowie zunehmende Verschuldung kennzeichnen in einer Zeit anhaltender Hochkonjunktur zur Genüge die gespannte Finanzlage der Stadt und können nicht als konjunkturgerecht betrachtet werden. Die Behörden sehen sich der schweren und verantwortungsvollen Aufgabe gegenüber, den Ausgleich zu finden zwischen der Finanzkraft der Stadt und den bedrohlich anschwellenden Ausgaben. Zunächst wartet ihnen die Geldbeschaffung für die von der Gemeinde beschlossene, auf 15½ Millionen Franken veranschlagte Trias von Vereinshaus, Hallenbad und Hochhaus. Als eine äußerst kostspielige Sache kündigt sich die Verkehrsplanung an. Das darüber eingeholte Gutachten verlangt, daß der Fern- und Durchgangsverkehr vom übrigen Verkehr getrennt und möglichst kreuzungsfrei vorbeigeleitet werde, was nicht ohne den Bau von Entlastungsstraßen mit Überführungen zu erreichen ist. Die Kosten für diese Bauten werden sich auch dann als drückende Last erweisen, wenn sich Bund und Kanton zu Beiträgen verstehen, In die Millionen geht der Kostenanteil der Stadt an die Verlegung der Bahnstrecke zwischen Seefels und Schlößli in einen Tunnel, der durch den Ausbau der Seelinie auf Doppelspur bedingt ist. Ähnlich hohe Summen erfordert die nicht länger mehr zu umgehende Abwasserreinigung durch Kläranlagen. Alle diese Arbeiten werden in den Schatten gestellt durch das geplante Riesenwerk der Um- und Neugestaltung der Bielerseebucht. Es geht darum, das verschlammte untere Seebecken aufzufüllen und das so gewonnene Erdreich zusammen mit dem alten Seeufer in eine weiträumige, von bequemen Spazier- und Fahrwegen durchzogene Park- und Gartenlandschaft zu verwandeln. Inbegriffen sind Häfen für Groß- und Kleinboote, Strandbäder, ausgedehnte Sportanlagen, ein Ausstellungsgebäude, Fest-, Spiel- und Ruheplätze, Restaurants usw. Auch der Bau eines neuen Gymnasiums ist im Plan vorgesehen.

Bei der gegenwärtigen Inanspruchnahme der Behörden durch die Tagesgeschäfte muß man sich allen Ernstes fragen, ob ihnen noch Zeit und Kraft bleibt, den großen Zukunftsausgaben die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und sich auf einen klaren Kurs zu besinnen, der sie vor der Gefahr bewahrt, den Überblick zu verlieren und sich einfach treiben zu lassen.

Biel, das einst davon träumte, als Hauptstadt eines Kantons dem Bund der Eidgenossen beizutreten, ist bescheidener geworden: ihm genügt heute, Mittelpunkt und Hauptort seiner engeren und weiteren Umgebung zu sein. Die Ansammlung wirtschaftlicher Macht allein ergibt noch keinen Hauptort. Dazu kommt es erst durch die geistig-sittliche und politische Anziehungskraft, die von ihm ausgeht. Während die der wirtschaftlichen Entwicklung innewohnenden Kräfte sozusagen von selbst auf einen zentralen Schwerpunkt hintreiben, bedarf es zur Bildung eines kulturellen Zentrums bewußter Anstrengungen. Die Zweisprachigkeit, die in einer ebenfalls zweisprachigen Umgebung zunächst als Vorteil erscheint, erweist sich in Wirklichkeit eher als Hindernis. Ein echtes, werbendes Kulturzentrum verlangt mehr als ein bloßes duldsames Nebeneinander von deutsch und welsch, es entsteht erst durch ein tätiges, fruchtbares Miteinander der führenden Geister. Ob und wie Biel mit dieser schweren Aufgabe zurechtkommt, wird die Zukunft lehren.

 

 

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