Der Landesstreik

Im Jahre 1914, beim Ausbruch des ersten Weltkrieges, hatte sich die Sozialdemokratie zur Landesverteidigung bekannt. Aber im Laufe des Krieges verschärfte sich der Kurs nach links bis zur Ablehnung der Landesverteidigung und letzten Endes bis zum Generalstreik. Wie ist diese Wandlung zu erklären? Sicher trug die vom Strom des internationalen revolutionären Sozialismus mitgerissene Führerschaft nicht allein Schuld. Während die Fabrikanten reiche Gewinne einheimsten, die Bauern die Lebensmittelknappheit zu rücksichtslosen Preissteigerungen ausnützten, einheimische und fremde Händler unbehelligt häßlichen Spekulations- und Schiebergeschäften oblagen, bekamen die Arbeiter und Angestellten die Kehrseite dieser Mißwirtschaft in ihrer ganzen Härte zu spüren. Die rasch fortschreitende Teuerung ließ die Löhne in immer größerem Abstand hinter sich, so daß in den armen Volksschichten bittere Not einzog. Je mehr sich die wirtschaftlichen Ungleichheiten vertieften, desto höher stieg die Erbitterung der Benachteiligten, die angesichts der Gleichgültigkeit der Landesbehörden mehr und mehr die Hoffnung verloren, ihre Lage auf gesetzmäßigem Wiege geändert zu sehen.

Der Sieg des Bolschewismus in Rußland befeuerte die Revolutionsstimmung unter den Arbeitern, der Gedanke eines entscheidenden Kampfes für die soziale Umwälzung nahm festere Gestalt in den Köpfen an. Der Bundesrat glaubte über die in der Arbeiterschaft vorhandene Gärung hinwegsehen und alle Warnzeichen mißachten zu dürfen. In dem vom sogenannten Oltener Komitee in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1918 ausgelösten Landesstreik kam es zur offenen Empörung gegen die sture Staatsgewalt.

Der Generalstreik war in Biel vollständig, der Eisenbahnverkehr stillgelegt. Die vor den Fabriken aufgestellten Streikposten forderten die zur Arbeit erschienenen Arbeiter auf, umzukehren. Wer sich widersetzte, riskierte einige Pfiffe. Die Straßenbahn verkehrte nicht, Zeitungen erschienen keine. Die Wirtschaften blieben geschlossen, ebenso die Kaufläden, ausgenommen die Lebensmittelgeschäfte. In den Straßen bewegte sich eine eher bedrückte Menschenmenge, doch blieb alles ruhig. Einzig in der großen Uhrenfabrik Omega kam es zu Gewalttätigkeiten, indem die Fabriktore eingedrückt und die in der Fabrik befindlichen Arbeiter vertrieben wurden. Am folgenden Tag, dem 13. November, trafen die aufgebotenen Truppen ein, stellten Wachen auf und ordneten Patrouillengänge an. Das Bürgertum hatte sich vom ersten Schrecken erholt, stellte eine Bürgerwehr auf die Beine und veranstaltete unter dem Schutz des Militärs einen Umzug. Die auf dem Neumarktplatz versammelten Arbeiter waren angewiesen worden, sich ruhig zu verhalten und sich nicht herausfordern zu lassen. Es kam zu keinen Zusammenstößen. Am 14. November ereignete sich ein Zwischenfall, der leicht einen schlimmen Ausgang hätte haben können, glücklicherweise aber ohne ernste Folgen blieb. Ein von Bern kommender Zug wurde von den Streikenden in Madretsch angehalten und der Lokomotivführer von der Maschine heruntergerissen, als ein Schuß krachte. Einer der Begleitsoldaten hatte geschossen und einen Streikenden am Arm getroffen. Sofort herbeieilende Soldaten zerstreuten die Menge und räumten den Platz. Eine von den aufgebrachten Streikenden für den Abend geplante Kundgebung wurde von den Ordnungstruppen vereitelt.

Am Nachmittag traf im Volkshaus die Nachricht ein, daß der Streik um Mitternacht zu Ende gehe. Sie wurde verschieden aufgenommen. Die meisten atmeten erleichtert auf, andere brachen in Verwünschungen gegen die Führer aus. Die im Bielerhof versammelten Arbeitgeber hatten beschlossen, die Fabriken am folgenden Tag wieder zu öffnen, was zur Beruhigung der Gemüter beitrug. Der Morgen des 15. November sah die Arbeiter wieder an den gewohnten Plätzen.

Am 12. November hatten sich die eidgenössischen Räte versammelt. Die bürgerlichen Vertreter hielten geschlossen zum Bundesrat. Sie erklärten sich zu politischen und sozialen Reformen bereit, jedoch nur auf verfassungsmäßigem Weg. Tags darauf stellte der Bundesrat dem Aktionskomitee ein Ultimatum, den Streik bis am Abend bedingungslos abzubrechen. Die Streikleitung, die sich über die Stimmung im Volk arg getäuscht hatte, kapitulierte nach heftigen Auseinandersetzungen in der Nacht vom 13. auf den 14. November. Der Versuch, die Macht auf ungesetzliche Weise an sich zu reißen, endete mit einem völligen Zusammenbruch, hatte aber immerhin das Gute, Reformen zu beschleunigen, die die Sozialdemokraten schon vorher und während des Streiks vergeblich verlangt hatten.

Das Schmerzhafteste waren in diesen schwarzen Tagen die vielen Grippeopfer. In den vier Militärlazaretten der Stadt lagen gegen Ende November über 700 kranke Soldaten, von denen viele von der Seuche dahingerafft wurden. Behörden und Bevölkerung taten alles, um den armen Kranken zu helfen. Aber auch in der Bevölkerung forderte die Seuche ihre Opfer. Nichts war erschütternder als die dumpfen Klänge der Trauermärsche und die Leichenzüge, denen man fortwährend in den Straßen begegnete.

 

 

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