Die Zweisprachenstadt

Um 1900 zählte Biel 22 106 Einwohner gegen 3600 im Jahre 1850. Im Zeitraum von 50 Jahren hatte sich die Bevölkerung versechsfacht. Die zu eng gewordenen Gebietsgrenzen sprengend, verschaffte sich dann die Stadt durch die Eingemeindung mehrerer Vororte Raum für weiteres Wachstum. In dem Umkreis, wo vor hundert Jahren 6000 Personen lebten, ballt sich jetzt eine Bevölkerung von 60‘000 Seelen zusammen - hoffen wir, es seien Seelen! - und der Vermehrung ist kein Ende abzusehen. Der unaufhaltsame Bevölkerungszudrang findet seine Erklärung in den vielfältigen Verdienstmöglichkeiten und den ausgebildeten sozialen Einrichtungen der Stadt. Dafür schuldet Biel seine wirtschaftliche Kraft im wesentlichen den Neubürgern. Von wagendem Unternehmungsgeist und schöpferischer Tatkraft beseelte Männer legten den Grund zur Uhrenindustrie, und die Gemeindebehörden begünstigten durch Steuer- und andere Erleichterungen den Zuzug fremder Uhrmacher. Der Zustrom auswärtiger Arbeitskräfte überflutete die alteingesessene Bürgerschaft und veränderte, mit einer lebhaften Wendung zum Französischen, Brauch, Sitte und Sprache.

Heute ist Biel eine erklärte Zweisprachenstadt, die einzige in der Schweiz, wo beide Sprachen, Deutsch und Französisch, durchaus gleichberechtigt nebeneinander stehen und angewendet werden. Die französischsprechende Bevölkerung macht etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus, genießt aber im Gebrauch ihrer Sprache genau dieselben Rechte wie die deutschen Bieler. Die Stadt vertritt in Verwaltungs-, Schul- und Kirchensachen unbedingte sprachliche Gleichberechtigung und dringt in ihrem Bereich sowohl bei den kantonalen wie bei den eidgenössischen Verwaltungen darauf, daß keine der beiden Sprachen begünstigt oder benachteiligt wird.

Wie ist das gekommen, wo doch Biel von alters her eine deutsche Stadt war, wenn auch stets mit regen politischen Beziehungen zum welschen Jura? Hatte man sich früher gegen die Einführung neuer Industrien gesperrt, so bemühte sich jetzt der Rat angelegentlich, der Uhrmacherei Eingang zu verschaffen. Indem er den Uhrmachern aus dem welschen Jura neben Steuervergünstigungen in Aussicht stellte, ihrer Sprache Rechnung zu tragen, legte er - wahrscheinlich ohne sich der Tragweite dieses Versprechens bewußt zu sein – den Grund zur Zweisprachigkeit Biels.

Nach einigen tastenden Versuchen erlangte die französische Schule bald feste Formen und entwickelte sich parallel zu den deutschen Volks- und Mittelschulen bis hinauf zum Gymnasium; an der Handelsschule und am Technikum wird der Unterricht in beiden Sprachen erteilt. In ihren guten Schulen wie auch im französischen Gottesdienst schuf sich die welsche Bevölkerung einen starken Rückhalt; sie ist sich ihrer sprachlichen und kulturellen Eigenart viel mehr bewußt und hält zäher an ihr fest als der in das welsche Sprachgebiet verpflanzte Deutschschweizer.

Die Gleichstellung der welschen mit den deutschen Bielern im Gebrauch ihrer Sprache zeigt sich im gesamten öffentlichen und geschäftlichen Leben, seinen Einrichtungen und seinen Äußerungen und tritt dem von außen Kommenden sofort sinnfällig in den doppelsprachigen Straßennamen entgegen. Daß deutsch und französisch geschriebene Zeitungen herauskommen, ist ebenso selbstverständlich, wie daß alle amtlichen Erlasse und Bekanntmachungen, einschließlich der Steuerzettel, doppelsprachig sind. Im Verkehr mit Behörden und Verwaltung bedient sich jedermann seiner Muttersprache und wird in ihr bedient. In den Räten und Kommissionen der Gemeinde verhandelt man deutsch (Mundart) und französisch, übersetzt wird nicht.

Man bringt es in einer Zweisprachenstadt wie Biel leicht dahin, daß jeder des andern Sprache versteht und radebrecht. Man bewegt sich in beiden Sprachbereichen, aber in keinem sicher und korrekt. Wenn es stimmt, daß das Verhältnis eines Menschen zur Muttersprache ein Gradmesser für den Stand seiner Kultur ist, dann kommen die Deutschbieler nicht allzu gut weg, jedenfalls weniger gut als ihre welschen Mitbürger. Denn während diese ihre Sprache verehren, sie hüten und pflegen, gebricht dem deutschsprachigen Bieler oft in bedenklichem Maße das Gefühl der Verantwortung für die angestammte Sprache. Der Welsche ist stolz auf seine Sprache, der deutsche Bieler ist stolz auf sein bißchen Französisch.

Die Zweisprachigkeit ist Lust und Last zugleich. Sie liefert mit dem Hinweis auf das beispielhafte Zusammenleben von deutsch und welsch in der gleichen Stadt für manche dem Empfang von Gästen gewidmete Magistratenrede den farbigen Einschlag. Aber den Behörden und der Verwaltung erwächst aus der gepriesenen Zweisprachigkeit vermehrte Verantwortung. Sie sind vor die Aufgabe gestellt, über der sprachlichen und kulturellen Zwiespältigkeit die politische Einheit des Gemeinwesens zu wahren. Das ist kein bloß nach arithmetischen Regeln zu lösendes Exempel. Abgesehen davon, daß eine sprachliche Minderheit sich in ihrer immer leicht verletzlichen Empfindlichkeit irgendwie bedroht und hintangesetzt fühlt, muß die deutsche Mehrheit sich bewußt bleiben, daß ihr in der welschen Minderheit eine ethnische und kulturelle Einheit gegenübersteht, die als Ganzes genommen und respektiert sein will. Nur wacher Verständigungsbereitschaft gelingt es, auftretende Spannungen zu lösen und zu verhindern, daß das Nebeneinander in ein Gegeneinander ausarte. Indem sich beide Teile bemühen, das Zusammenwohnen von deutsch und welsch zu einem fruchtbaren Miteinander zu erheben, wird aus der Not eine Tugend.

Die sprachliche Zwiespältigkeit ist mit ein Grund, daß uns Bielern Einheit und Stetigkeit der kulturellen Entfaltung und die Gunst der Musen versagt blieb. Wir können nicht leugnen, daß unser Sinnen und Trachten mehr dem Materiellen als dem Geistigen zuneigt. Biel huldigt einem Fortschritt, der vom Technischen her bestimmt ist. Dessen ungeachtet wollen wir die ernsthaften Anstrengungen, das kulturelle Leben der Stadt zu heben und den schönen Künsten zu ihrem Rechte zu verhelfen, nicht übersehen. Es gilt, zwischen den materiellen Kräften, die bereichern, und den geistigen, die veredeln, ein Gleichgewicht zu erzielen, Nur freilich, erzwingen läßt sich hier nichts. Der Geist weht, wo er will, einfangen läßt er sich nicht, am allerwenigsten in Kulturpalästen.