Das neue Biel
In den 1870er Jahren erlebte Biel eine eigentliche Gründerzeit. Das vordem stille, gewerbe- und verkehrsarme Städtchen mitsamt seiner ländlich-idyllischen Umgebung verwandelte sich in der Folge in ein brausendes Industrie- und Verkehrszentrum. Die allenthalben mächtig in die Halme schießende Unternehmungslust rief einer ununterbrochenen Reihe industrieller Neugründungen, meistens Uhrenfabriken und zugehörige Hilfsbetriebe. Es entstanden die ersten großen Fabriken. In den weitläufigen Gebäulichkeiten der eingegangenen Baumwollspinnerei und -weberei in der Gurzelen eröffneten die Gebrüder Brandt aus La Chaux-de-Fonds die Uhrenfabrik Omega. Mit der fabrikmäßigen Produktion hielt die Maschine Einzug und drängte die Handarbeit mehr und mehr zurück. Umsonst wehrte sich der Arbeiter gegen die ihm feindlich erscheinende Maschine, es war dagegen nicht aufzukommen. So ungern der an eine ungebundene Arbeitsweise gewohnte Uhrmacher sich der ihm von der Fabrik auferlegten strengen Arbeitsdisziplin fügte, der Schritt mußte getan werden. Die Maschine arbeitet nicht nur schneller und billiger, sondern auch exakter und besser. In ihr liegt der Zug zur Präzision, die das Wesen der Uhr ausmacht und in der Chronometrie ihren vollendeten Ausdruck findet. Aus handwerklicher Praxis ist wissenschaftliche Technik, aus der Arbeit zu Hause im Familienverband ist großindustrielle Produktion geworden.
Das hindert nicht, daß neben den großen Fabriken auch die kleine Unternehmung blüht. Die Uhrenindustrie hat trotz einschränkender staatlicher Vorschriften und scharfer Verbandsregelung ihren individualistischen Untergrund und Einschlag bewahrt, und zahlreiche kleinere Firmen haben es zu Weltgeltung gebracht.
Die Errichtung einer Uhrmacherschule ließ nicht lange auf sich warten und bewies, daß man sich der Bedeutung der Uhrenindustrie als Haupterwerbszweig bewußt und einsichtig genug war, sich ihre Erhaltung und Förderung etwas kosten zu lassen - eine Einsicht, die später zeitweilige Trübungen erlitt.
Die stürmische Entwicklung erregte einen Zustrom von Arbeitskräften aus der näheren und weiteren Umgebung und steigerte die Nachfrage nach Wohn- und Geschäftsräumen. An allen Ecken und Enden wurde gebaut, leider ziemlich planlos, weil kein leitender, verbindlicher Bauwille vorhanden war. Neue Straßenzüge entstanden, darunter die Dufourstraße. Auch die Altstadt wurde nicht vergessen, Gassen und Plätze erhielten ein neues Steinpflaster. Die Güterpreise zogen an, Handel und Wandel blühten auf.
Einige chronikalisch aufgeführte Daten sollen die Entwicklung veranschaulichen. Am 29. April 1874 erfolgte die festliche Eröffnung der Eisenbahnlinie Biel - La Chaux-de-Fonds, und drei Jahre später konnte der Verkehr auf dem ganzen Jurabahnnetz aufgenommen werden. In das Jahr 1876 fällt die Einweihung der Tonhalle, die jahrzehntelang alle großen öffentlichen und politischen, wie gesellschaftlichen und musikalischen Veranstaltungen beherbergte. Ihr folgte mit etwas weniger Spektakel die Betriebsaufnahme im städtischen Schlachthof. Die 1877/78 von der Genfer Tramwaygesellschaft gebaute Pferdebahn, die Biel mit den Vororten Bözingen und Nidau verband, entsprang dem großen Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Die Betriebsergebnisse blieben jedoch weit hinter den Erwartungen zurück, die Menschen hatten damals das Gehen noch nicht verlernt. 1901 ging die Straßenbahn an die Gemeinde über und wurde sofort auf elektrischen Betrieb umgebaut. Ende der siebziger Jahre konnte das große Werk der aus der Merlinquelle gespiesenen Wasserversorgung vollendet und eingeweiht werden. Beim Umzug der Postverwaltung in das neue Postgebäude an der Mühlebrücke, 1882, wurde mit Stolz vermerkt, daß die Zahl der Angestellten in der Zwischenzeit von drei auf 24 gestiegen sei. Unter der Bedingung, daß sich 50 Abonnenten fanden, erklärte sich die Telegraphenverwaltung bereit, das Telephon einzurichten. Die geforderten 50 Teilnehmer fanden sich nicht, trotzdem wurde der Betrieb 1884 mit 37 Abonnenten aufgenommen. Im Jahre 1887 eröffnete die Drahtseilbahn Biel-Magglingen, eine der ersten in der Schweiz, den Betrieb. Ihr folgte 1898 die Drahtseilbahn nach Leubringen. 1889 wurde von einer zu diesem Zwecke gegründeten Gesellschaft die von der Schüß durchrauschte wildromantische Taubenlochschlucht durch einen bequemen Spazierweg erschlossen.
Für das gewaltige Unternehmen der Juragewässerkorrektion scheint in Biel das volle Verständnis gefehlt zu haben, obschon ihr Hauptstück die Ableitung der Aare durch den Einschnitt bei Hagneck in den Bielersee war und obschon ein Bieler, der ausgezeichnete Ingenieur Gustav Bridel, die Oberleitung hatte. Die Chronik Bloeschs tut der denkwürdigen Vollendung des Kanals und der darauf folgenden Feier am 17. August 1878, genau zehn Jahre nach dem ersten Spatenstich, mit keinem Wort Erwähnung.
Der Bau des Hagneck-Kanals ließ den Gedanken an die Ausnutzung der Wasserkraft durch ein Elektrizitätswerk reifen. Dem von Nidau und Täuffelen bei der bernischen Regierung eingereichten Konzessionsbegehren schloß sich nachträglich auch Biel an. Nach langen fruchtlosen Verhandlungen und Bemühungen gelang 1898 die Gründung der Aktiengesellschaft «Elektrizitätswerk Hagneck» mit Sitz in Biel. Die Bauarbeiten waren schon vorher begonnen worden, und im Jahre 1900 konnte Strom für Kraft und Licht abgegeben werden. Durch den Ankauf des der Gesellschaft «Motor» in Baden gehörenden Werkes an der Kander bei Spiez entstanden die «Vereinigten Hagneck- und Kanderwerke››, wobei der Gesellschaftssitz nach Bern verlegt wurde. Mit dem Hagneckwerk war der erste Stützpunkt für die Versorgung des Seelandes mit elektrischer Kraft und zugleich der Ausgangspunkt für die weiträumige Elektrizitätspolitik der «Bernischen Kraftwerke» geschaffen worden.
Für eine Industriestadt wie Biel ist die ausreichende und billige Versorgung mit elektrischer Kraft eine Lebensbedingung. Als Konzessionsgemeinde hatte sich Biel bei der Übertragung der Konzession für das Hagneckwerk auf die Bernischen Kraftwerke das Recht vorbehalten, allein oder zusammen mit den übrigen beteiligten Gemeinden das Werk durch Kauf an sich zu bringen. Dies hätte erstmals im Jahre 1930 geschehen können. Allein der Gemeinderat verhehlte sich nicht, daß der Versuch, das Hagneckwerk aus dem Netz der Bernischen Kraftwerke herauszubrechen bei der Gesellschaft wie bei der Regierung auf den schärfsten Widerstand stoßen würde. Er zog deshalb vor, das Kaufsrecht für einmal zurückzustellen und es dafür bei der Aushandlung eines neuen günstigen Stromlieferungsvertrages in die Waagschale zu werfen, was ihm bis zu einem gewissen Grade gelang.
Erwähnt sei, daß im Drahtzug zu Bözingen schon seit 1883 eine Dynamomaschine im Betriebe war, die auch an zwei Uhrenfabriken Strom lieferte, was als erste gelungene Kraftübertragung auf Distanz in der Schweiz angesprochen werden kann. Nach dem Ausbau der Anlage wurde die vermehrt gewonnene Kraft an den Bahnhof und die Werkstätte der Jura-Simplon-Bahn, von 1890 hinweg auch an die Stadt Biel geliefert.
Um den Sitz des Kantonalen Technikums entbrannte unter den Städten Biel, Bern und Burgdorf ein heißer Kampf, den der Große Rat 1891 zugunsten Burgdorfs entschied. Obzwar bitter enttäuscht, ließen sich die Bieler keineswegs entmutigen und beschlossen die Gründung eines «Westschweizerischen Technikums». Die Schule, die rasch erfreuliches Vertrauen und Ansehen im In- und Ausland gewann, wurde im Jahre 1910 vom Kanton übernommen, Mit dem 1901 einstimmig beschlossenen Ausbau des Progymnasiums zum Gymnasium setzte der Stadtrat dem Bieler Schulwesen die Krone auf. Es ging vorläufig um die Errichtung von vier Oberklassen, der darauf vorbereitende Unterricht blieb dem Progymnasium überlassen. 1910 erfolgte der festliche Einzug in das stattliche Schulhaus an der Alpenstraße. Die 1917 vollzogene Neugliederung der Schule brachte die Abtrennung vom Progymnasium und die Schaffung des dreiklassigen Untergymnasiums, womit das Gymnasium den eidgenössischen Normen entsprach und in die Reihe der vom Bundesrat anerkannten schweizerischen Maturitätsschulen aufgenommen werden konnte. Unter der Leitung des hervorragenden Schulmannes Dr.Hans Fischer wurde das junge Bieler Gymnasium rasch eine Schule von Ruf.
Eine hochherzige Stiftung der Ehegatten Sigmund Heinrich und Johanna Esther Wildermeth ermöglichte den Bau eines vorzugsweise zur Aufnahme armer Kinder bestimmten Spitals, das seit 1903 unter dem Namen « Kinderspital Wildermeth» seiner gesegneten Tätigkeit obliegt. 1909 geschah die Umwandlung des Gemeindespitals im Pasquart in ein Bezirkskrankenhaus. Durch Vertrag verpflichtete sich die Stadt gegenüber dem Bund zum Bau eines Zeughauses an der Bözingenstraße, das 1914 vom Eidgenössischen Militärdepartement in Miete genommen und später Vom Bund angekauft wurde.
Nachdem der bedeutende Vorort Bözingen sich bereits im Jahre 1911 für die Vereinigung mit der Stadt Biel ausgesprochen hatte, führten die Verhandlungen zum Abschluß eines Vereinigungsvertrages, der nach Annahme durch die beiden Gemeinden auf Grund des grossrätlichen Dekretes am 1. Januar 1917 in Kraft trat. Nachdem Bözingen vorangegangen war, fand 1920 die Eingemeindung von Mett und Madretsch statt. Nicht zustande kam die von Nidau, obschon beide Gemeinden die Vereinigung mit erheblichem Mehr beschlossen hatten; der Große Rat der in dieser Sache das letzte Wort hat, lehnte sie gegen den Antrag des Regierungsrates aus parteipolitischen Gründen ab.
Daneben bot das öffentliche Leben Biels eher ein Bild friedlicher, um nicht zu sagen untätiger Stille. Der wirtschaftliche Aufschwung, verbunden mit dem gesteigerten Erwerbssinn, lockte die hellen Köpfe und entzog der Politik die besten Kräfte. Die Wahlen in den Nationalrat und den Großen Rat spielten sich lange Jahre unwidersprochen nach den Vorschlägen des «Volksvereins» ab, bis es plötzlich im Jahre 1882 wegen der Großratswahlen aus rein persönlichen Gründen zu einem Sturm im Wasserglas und zu einer Spaltung im «Volksverein» kam, die - man weiß nicht recht warum und wozu die Bildung eines «liberalen Vereins» nach sich zog. Der neue Verein huldigte nämlich genau den gleichen Anschauungen und Grundsätzen wie der «Volksverein». Zu vermehrtem politischem Leben regte die Einführung der Verhältniswahl und die erstarkende sozialdemokratische Opposition an.
Als festfrohes Völklein ließen sich die Bieler keine Gelegenheit zum Feiernentgehen. Beschwingte Tage waren von alters her Beginn und Schluß der Weinlese, bis der Schwund der Reben im Stadtgebiet dem ein Ende machte. An Festen und Gedenkfeiern aller Art war deswegen nie Mangel. Man mag das Übermaß bedauern oder belächeln; aber es ist doch so, daß die Festtradition in unserm Bundesleben einer Notwendigkeit entspricht, und man wird anerkennen müssen, daß die einigende Kraft, die davon ausgeht, dem trennenden Ferment der Politik in glücklicher Weise entgegenwirkt.