Der Aufstieg der Arbeiterschaft
Erschüttert von der Not des industriellen Arbeitervolkes erhob der freisinnige Pfarrer Albert Bitzius zu Beginn der 70er Jahre heftige Anklage: «Seit vierzig Jahren füttern wir die Arbeiter mit den Leckerbissen politischer Rechte und möchten sie dadurch vergessen machen, daß sie kein Brot haben, daß sie heimatlos sind im eigenen Vaterland» Weil aber der Radikalismus die Mängel und Schäden der von ihm gestützten Wirtschaftsordnung geflissentlich übersah, konnte er sie auch nicht bekämpfen und abstellen. Deshalb wandten sich die Arbeiter von ihm ab und griffen zur Selbsthilfe.
Der uns aus der Flüchtlingszeit bekannte Kommunist Philipp Becker betrachtete als wirksamste Waffe im Kampf um die soziale Umwälzung die Arbeiterproduktionsgenossenschaften, und unter seinem Antrieb schlug das Genossenschaftswesen Wurzel. Allerdings nicht in Biel, das sich noch für lange Zeit als ein steiniger Boden erwies. Wiederholte Versuche, einer Konsumgenossenschaft ins Leben zu verhelfen, ermangelten der Unterstützung einer einsichtigen Arbeiterschaft und scheiterten. Erst im Jahre 1891 gelang es einer Gruppe von Eisenbahnangestellten, eine lebens- und entwicklungsfähige Konsumgenossenschaft zu gründen, der Dauer beschieden war. Albert Galeer mischte in den Radikalismus soziale Gedanken und kann als geistiger Vater des 1838 in Genf gegründeten «Grütlivereins» angesprochen werden. Dieser setzte sich, entgegen den Kommunisten, die gerechte Lösung der Arbeiterfrage auf vaterländischem Boden zum Ziel. Nach Galeer sollte in einem republikanischen Staat jeder Bürger bei rechtem Willen und redlichem Bemühen ein menschenwürdiges Dasein führen können und an den geistigen und kulturellen Gütern teilhaben.
Erwähnung verdient die stark unter dem Einfluß des russischen Anarchisten Michael Bakunin stehende «Juraföderation», um 1870 ein bedeutender Arbeiterverband, der auch in Biel seinen Ableger hatte, ohne jedoch dauernde Spuren in der Arbeiterbewegung zu hinterlassen.
1849 entstand die Grütlisektion Biel, die ihre Tätigkeit unter die Losung «durch Bildung zur Freiheit» stellte. Trotzdem genügten verleumderische Anschuldigungen, um 1852 der konservativen Berner Regierung den Vorwand zum Verbot und zur Auflösung der im Kanton bestehenden Sektionen zu liefern. Das ungerechte Verbot wurde zwei Jahre später von der sogenannten Fusionsregierung aufgehoben.
Die wiedererstandene Bieler Sektion übernahm 1856 die Durchführung des Grütlizentralfestes. In der Verbandszeitung, dem «Grütlianer», wurde die gastliche Aufnahme gerühmt, die die Festbesucher «in dem freundlichen Städtchen Biel, wie noch selten an einem Ort» erfuhren. Es zeugt vom Ansehen, dessen sich der Grütliverein erfreute, daß außer dem Allgemeinen Arbeiterverein und den 33 Vereinsbannern im Festzuge vertreten waren: das Zentralkomitee des Schweizerischen Handwerker- und Gewerbevereins, die Gemeinnützige Gesellschaft, der Cercle Industriel, der Kunstverein, die Gesangvereine «Liedertafel» und «Frohsinn» sowie der Turnverein der Stadt. Im Jahre 1866 wurde die Zentralleitung des Grütlivereins den beiden (deutschen und französischen) Bieler Sektionen übertragen. Bei allen Abstimmungen, zu denen der Grütliverein Stellung bezog, wurde er vom Vorort Biel kräftig unterstützt. Ein erster großer Erfolg der werbenden Tätigkeit des Vereins war das Fabrikgesetz von 1878.
Im Jahre 1874 beteiligte sich die deutsche Sektion des Grütlivereins Biel an den ersten Stadtratswahlen und erhielt auf Grund einer Vereinbarung unter den Parteien drei Vertreter. Um der Sache der Arbeiter mehr Gewicht zu geben, schlossen sich 1888 die verschiedenen Berufsvereine mit den Grütlisektionen zur «Arbeiterunion Biel» zusammen, die sich fürderhin mit allen gewerkschaftlichen und sozialpolitischen Fragen befaßte. In Biel hatte auch der romanische Adjunkt des Schweizerischen Arbeitersekretariats seinen Sitz und spielte naturgemäß in der örtlichen Arbeiterbewegung eine nicht unbedeutende Rolle. - 1890 wurde in Biel die erste Maifeier abgehalten.
An der Revision des Gemeindereglements von 1892 war der Grütliverein mit einer Reihe von Vorschlägen maßgebend beteiligt. Die nachfolgende Neuwahl des Stadtrates trug den Grütlianern zehn Sitze ein, wogegen sie im Gemeinderat noch einmal leer ausgingen.
Nachdem sich der Grütliverein 1893 zur Sozialdemokratie bekannt hatte und in Solothurn der Zusammenschluß der beiden Parteien unter weitgehender Wahrung ihrer Selbständigkeit verkündet worden war, wurde 1903 die schweizerische Parteileitung den Bieler Sektionen des Grütlivereins mit Gottfried Reimann an der Spitze anvertraut.
Einer der letzten Höhepunkte im Leben des Schweizerischen Grütlivereins war das Zentralfest, das vom 28.Juli bis 1. August 1911 in Biel stattfand. An Stelle von Biel wurde Zürich zum Vorort bestimmt. Das ungleiche Gespann von Grütliverein und Sozialdemokratischer Partei vertrug sich auf die Dauer nicht und geriet immer weiter auseinander, bis es 1915 zum Bruch kam. Zehn Jahre später, 1925, löste sich der Grütliverein auf und empfahl seinen Mitgliedern, der Sozialdemokratischen Partei beizutreten.
Die Einführung der Verhältniswahl im Jahre 1908 eröffnete den Minderheiten die Aussicht auf eine bessere Vertretung in den Behörden. Die im gleichen Jahre stattfindenden Erneuerungswahlen des Stadtrates brachten der Arbeiterschaft zur eigenen Überraschung 28 von den 60 Stadtratssitzen ein. Aber die dadurch geweckte Hoffnung, bei den nächsten Wahlen die Mehrheit zu erlangen, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil fiel 1912 die Vertretung der Arbeiter auf 26 Sitze zurück, und die Wahlen von 1916, die man mit der gemeinsamen Liste «Sozialdemokratische Partei und Arbeiterunion» sicher zu gewinnen hoffte, bereiteten abermals eine arge Enttäuschung: es blieb bei den bisherigen 26 Stadtratssitzen.
Es brauchte mehrere Anläufe, bis sich 1911 in Biel neben den Grütlisektionen eine «Sozialdemokratische Mitgliedschaft» durchsetzen und halten konnte. Der in diesen Mitgliedschaften herrschende klassenkämpferische Ton behagte den noch national gesinnten Arbeitern nicht. Nach der Trennung zwischen Grütliverein und Sozialdemokratischer Partei zogen sich auf dem Platze Biel die beiden Gruppen von der Arbeiterunion zurück. Diese wandelte sich zum Gewerkschaftskartell mit ständigem Sekretariat. Die in der «Sozialdemokratischen Gesamtpartei der Stadt Biel» vereinigten Mitgliedschaften übernahmen die Führung der durch den Weltkrieg und die von ihm verursachten Nöte aufgescheuchten Arbeiterschaft. Die Erneuerungswahlen von 1921 verschafften den Sozialdemokraten eine knappe Mehrheit in den Räten.